Eben habe ich einen interessanten Beitrag zur Prädestination auf
http://hanniel.ch/2017/07/19/standpunkt-die-biblische-lehre-von-der-erwaehlung/
gelesen. Dabei ist interessant, dass Hanniel nicht von Augustin und Calvin überzeugt wurde, sondern von der Bibel. Am Ende geht er auf das Thema der Zurechnung der Erbsünde wie auch der Gnade ein. Hier möchte ich noch anfügen, dass wir sündigen, weil wir Sünder sind und nicht Sünder sind, weil wir sündigen. D.h. unser reales Verhalten und unsere tatsächlichen tiefsten Motive sind durch den Sündenfall von Adam sündig. Wir sündigen also, weil es zu unserer sündigen Natur gehört. (Dies bedeutet nicht, dass wir auch gute Werke machen. Aber die Motive hinter allem, sogar den besten Werken ist nicht so gut, wie wir im ersten Moment glauben.) Diese Zurechnung oder Ererbung der Erbsünde ist also nicht nur theoretisch, sondern tatsächlich vorhanden und wir beweisen täglich, wessen Kinder wir sind. Darum ist die Zurechnung der Gnade Gottes durch Jesus Christus ebenso real! In Christus sind wir wirklich rein und gerecht, obwohl wir es aus uns nicht sind und obwohl erst beim zweiten Kommen diese geistliche Wahrheit, dass wir Gott gehören, auch wirklich in der ganzen Fülle durchdringt. Luther spricht ja sogar davon, dass Gott mit uns heuchelt: Gott behandelt uns wie Heilige und nennt uns Heilige, weil Christus für unsere Sünden gestorben ist, obwohl wir es aus uns überhaupt nicht sind. Auch Paulus schreibt im Römerbrief so ca. 7. und 8. Kapitel, wie er (als Wiedergeborener), nun das Gute will, aber sein Fleisch, d.h. seine menschlichen Möglichkeiten, wollen das gar nicht. Gott in ihm will. Sein geistliches Leben will. Aber sein alter Mensch will und kann sogar nach seiner Bekehrung nicht. "Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem Todesleib? Ich danke Gott durch Jesus Christus, unseres Herrn! So diene nun ich selbst mit der Gesinnung dem Gesetz Gottes, mit dem Fleisch aber dem Gesetz der Sünde." (Römer 7,24+25) "So gibt es nun keine Verdammnis mehr für die, welche in Christus Jesus sind, die nicht nach dem Fleisch wandeln, sondern nach dem Geist." (Römer 8,1) (zugegeben: Paulus schreibt komplex. Das ist Hirn und Herz-Training)
Ron Kubsch hat in dieser engagierten Diskussion die biblische Lehre der Erwählung und Erlösung wunderschön ausgeführt. Ich habe einige seiner Kommentare zusammengestellt:
Der Mensch steht wegen seines Ungehorsams (!) unter dem Zorn Gottes, nicht wegen seiner Unschuld.
„Gott kann nicht ungerecht sein“, ist nicht postmodern, sondern prämodern, vgl. z.B. Röm 9. Entscheidend wird sein, was genau unter „gerecht“ verstanden wird. In der von mir kritisierten postmoderne Theologie setzt der Mensch den Standard für Gerechtigkeit. Gemäß reformierter, aber auch katholischer, Theologie ist Gott der Gesetzgeber. Er legt also fest, was gerecht ist.
Gott ist gut. Er entscheidet gemäß seinem Wesen und ist sich selbst Gesetz. Gott handelt notwendig gut, weil er gut ist. Gott regiert seinem Charakter entsprechend und in Übereinstimmung mit dem Gesetz, das er sich selbst gibt und ist damit für die Menschen ein zuverlässiger Bundespartner (er steht weder unter, noch über, dem Gesetz).
Gott hat aus allen Sündern einige auswählt (und belässt andere in ihrer Sünde, übergeht sie also). Eigentlich haben alle Menschen den gerechten Zorn Gottes verdient. Gott erbarmt sich aber einiger und rettet sie durch Christus.
Die Menschen, die unter Adam geboren sind, sind ja nicht mehr frei.Adam war frei. Sie sind doch Sklaven der Sünde. Aus der Tiefe der menschlichen Sündhaftigkeit ergibt sich, dass der gefallene Mensch gar nicht anders kann als zu sündigen (lat. non posse non peccare). Er ist wirklich verloren, tot in seinen Verfehlungen (vgl. Eph 2,1.5).
Ich glaube nicht, dass alles, was geschieht, von Gott kommt. Ich glaube, dass Gott die ganze Welt in seiner Hand hält. Sogar der Satan kann sich nicht über Gott hinwegsetzen (vgl. Hiob 1). Kurz: Gottes Beziehung zum Bösen ist permissiv.
Gott ist nicht abhängig von irgendetwas außerhalb seiner selbst. Er unterliegt keiner Notwendigkeit, die ihn von außen lenkt. Alles, was von Gott geschaffen ist, hängt dagegen von Gottes Willen ab. Der Mensch kann nicht aus sich selbst heraus existieren. Oder anders: Gott braucht den Menschen nicht, aber der Mensch braucht Gott.
Jesus ist für die gekommen, die einen Arzt brauchen, für die Schwachen und Sünder. „Was hast du, das du nicht empfangen hast? Wenn du es aber empfangen hast, was rühmst du dich dann, als hättest du es nicht empfangen?“, fragt Paulus (1Kor 4,7). Aus der Sicht des Apostels ist der Mensch tot in seinen Sünden (Eph 2,1). Denn aus Gnade sind wir „selig geworden durch Glauben, und das nicht aus uns: Gottes Gabe ist es, nicht aus Werken, damit sich nicht jemand rühme“ (Eph 2,8). Jesus sagt in John 6,65: „Niemand kann zu mir kommen, es sei ihm denn vom Vater gegeben“.
Nehmen wir das Beispiel aus Lk 22. Jesus betet dort für Simon Petrus, damit sein Glaube nicht aufhört. Der autarke Petrus, also der ganz auf sich angewiesene Petrus, kann nicht vertrauen und wird den Versuchungen dauerhaft nachgeben. Aber Jesus betet für den Glauben seines Jüngers. Obwohl der Glaube des Petrus eine ur-persönliche Sache ist, wirkt Gott offensichtlich irgendwie in seinem Herzen, so dass Petrus vertraut. Das ist die kompatibilistische Sicht von Freiheit, die wir auch bei den Reformatoren finden.
Die Frage, warum Gott nicht alle Menschen erwählt, kann ich nicht beantworten. Da geht es mir wie Paulus: „Was sollen wir nun hierzu sagen? Ist denn Gott ungerecht? Das sei ferne!“ Paulus und „Rechtgläubigen“ vorzuwerfen, sie seien kühl, im biblischen Formalismus gefangen, empfänden also keine Traurigkeit im Blick auf die Verlorenen, überzeugt mich nicht. Es deckt sich auch nicht mit meinen Erfahrungen. Calvin sprach vom „furchtbaren Ratschluss“ (decretum horribile). Oder nehmen wir Paulus. Er schreibt: „Ich sage die Wahrheit in Christus, ich lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im Heiligen Geist, daß ich große Traurigkeit und unablässigen Schmerz in meinem Herzen habe. Ich wünschte nämlich, selber von Christus verbannt zu sein für meine Brüder, meine Verwandten nach dem Fleisch, … „ (Röm 9,1–3). In Röm 10,1 schreib er über seine Volksgenossen: „Liebe Brüder, meines Herzens Wunsch ist und ich flehe auch zu Gott für sie, dass sie gerettet werden.“ Diesem Gebet schließe ich mich an. Die Traurigkeit kenne ich.
(Den Libertinismus zu verwerfen bedeutet nicht), dass ein Mensch keine Handlungsfreiheit hat (der durch Gott und/oder durch die gefallene Natur allerdings Grenzen gesetzt sind). Ein Sünder entscheidet sich beispielsweise in Übereinstimmung mit seiner Natur für die Sünde.
„Das freie Willensurteil ist das Vermögen, nach deinem eigenem Gutdünken zu handeln, so dass du wirklich von dir aus handelst, nicht von einem anderen in eine Richtung getrieben wirst, die du nicht willst. Dabei ist Gewalt, die ich gegen deinen Willen zwingt und fortreißt, ausgeschlossen, nicht jedoch die Standhaftigkeit, richtig zu handeln und dies notwendigerweise dank der Gabe Gottes.“ (Martin Bucer, Kommentar zum Römerbrief)
Es gibt in Deutschland einen großen Einfluss reformierter Theologie durch Leute wie Francis Schaeffer, J.I. Packer, John Stott, R.C: Sproul, Adolf Zahn oder Martyn LLoyd-Jones. Die Gründer der beiden dt. Freikirchen (Hermann Heinrich Grafe und Gerhard Oncken) sowie Huddon Spurgeon, waren theologisch reformiert (von der Tauffrage abgesehen).
Die Erwählung konkretisiert sich durch Verkündigung und den persönlichen Glauben, traditionell auch als Erleuchtung bezeichnet, die Gott dem Menschen schenkt. Ein klassischer Begründungstext wäre: „Als das die Heiden hörten, wurden sie froh und priesen das Wort des Herrn, und alle wurden gläubig, die zum ewigen Leben bestimmt waren“ (Apg 13, 48). Das Evangelium wird allen verkündigt und einige werden gläubig. Die Gläubigen wissen, dass der Glaube ihnen aus Gnade geschenkt wurde. Denn aus Gnade sind sie errettet worden, nicht, weil sie was vorzuweisen haben (vgl. Eph 2,8).
Gott ist gerecht und barmherzig. Er hält sich an das, was er verordnet hat. Der Sünde Sold ist der Tod. Die Sünde und Verdammnis ist über alle Menschen gekommen und so auch der Tod. Diese Strafe Gottes ist gerecht. Der Himmel und die Erde werden aufgespart für das Feuer, bewahrt für den Tag des Gerichts und der Verdammnis der gottlosen Menschen (vgl. 2Petr 3,7).
So wie die Sünde durch einen Menschen zu uns gekommen ist, so ist auch die rettende Gerechtigkeit durch einen Menschen zu uns gekommen. Christus hat unsere Strafe auf sich genommen. Die, die an Christus glauben und es bekennen, werden errettet. Gott verzögert das letzte Gericht, bei dem die Menschen die verdiente Strafe erhalten. Er hat Geduld und will nicht, dass jemand verloren werde, sondern dass jedermann zur Buße finde. Er lässt deshalb durch seine Herolde das Evangelium verkündigen zur Vergebung der Sünden. Leider hören viele Menschen die Einladung nicht.
Ich kann nur sagen, ich habe es nicht verdient. Es ist Gnade, denn ich habe den ewigen Tod viel mehr verdient als die Menschen um mich herum. Ich habe Gott nicht mehr gesucht als andere. Ich bin nicht moralisch besser. Nichts, aber auch nichts, habe ich vorzuweisen. Ich bin völlig unverdient errettet worden. „Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin … Aber Gott, dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit!“
Die Erwählung wird ja von Gott in der Geschichte ausgeführt. Die Vorherbestimmung wird im Hier und Jetzt wirksam (Röm 8,30: „Die er aber vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen; die er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht“). Obwohl etwa die Verheißung eines Retters, der der Schlange den Kopf zertreten wird, schon in Genesis 3 zu finden ist (Gott also einen Plan hatte, das Böse zu besiegen), ist Jesus als historische Person tatsächlich gekommen und hat den Tod besiegt. Gott benutzt dazu die Verkündigung des Evangeliums, das Gebet usw. Die Lehre von der Erwählung ist nie Fatalismus. Ihr Sitz bei den Genfer Theologen war z. B. die Trosttheologie für die verfolgten Christen. Gerade eine Theologie mit einer hohen Sicht der Erwählung hat kirchengeschichtlich die Mission und Evangelisation enorm beflügelt, denken wir an Johnathan Edwards, William Carey oder in jüngster Zeit Francis Schaeffer.
Wenn Gott schon gewusst hat, dass Menschen in die ewige Verdammnis kommen, warum hat er dann überhaupt die Welt und die Menschen geschaffen? Hier kann ich nur mit Augustinus antworten: „Du, Mensch, erwartest von mir eine Antwort, – und ich bin doch auch ein Mensch!“ Deshalb wollen wir beide auf den hören, der da spricht: „Ja, lieber Mensch, wer bist du denn? (Röm 9,20). Denn ein gläubiges Nichtwissen ist besser als ein vorwitziges Wissen!“ Und noch einmal Augustinus: „Sehr heilsam bekennen wir, was wir sehr recht glauben, nämlich daß der Gott und Herr aller Dinge, der alles ,sehr gut’ geschaffen hat, der zuvor wußte, daß aus dem Guten Böses erwachsen würde, und der wußte, daß es seiner schlechthin allmächtigen Güte eher anstünde, das Böse zum Guten zu wenden, als das Böse nicht geschehen zu lassen, daß dieser Gott das Leben der Engel und der Menschen so angeordnet hat, daß er an ihm zunächst zeigte, was der freie Wille vermag, und dann auch, was die Wohltat seiner Gnade und das Urteil seiner Gerechtigkeit kann!“ (corrept. 10,27).
Wenn ich als Sünder (mit der Erbsünde) auf die Welt gekommen bin, Gott mich also so geschaffen hat, warum werde ich dann noch für Sünde zur Verantwortung gezogen? Weil Adam der Vertreter der gesamten Menschheit war, haben wir „durch“ ihn gesündigt (Röm 5,12-21). Das bedeutet, dass seine Sünde unsere Sünde ist (V. 19), seine Schuld unsere Schuld (V. 16-17). Mit Adam sind wir Teil des Bundes im Garten Eden und als Bundesbrecher Sünder. Ich weiß, dass das Prinzip der Anrechnung für Menschen in der Moderne schwer nachvollziehbar ist. Aber die Bibel kennt diese Regel der Anrechnung von Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit (denken wir nur an den Opferkult). So, wie uns die Ungerechtigkeit des einen Menschen angerechnet wird (da Adam die Menschheit vor Gott repräsentiert), so wird uns auch die Gerechtigkeit von Jesus Christus zugerechnet, wenn wir ihm glauben.
Weiterlesen
Mich persönlich hat weder Augustin noch Calvin überzeugt, sondern das intensive Lesen des Alten und des Neuen Testaments.
Thomas Schirrmacher hat auf 80 Seiten das alt- und neutestamentliche Zeugnis zusammengestellt. Das war für mich der erste Zusammenzug, der keine Stelle „ausblendet“.
Heute habe ich bei der NZZ zu diesem Thema zwei Beiträge gelesen:
Herr René Schaub hält in seinem Beitrag: "Ehe für alle? Ehe für keinen?" fest, dass Ehe für alle nach Privilegien für alle klinge. "Aber Vorrechte für alle kann es es schon rein denklogisch nicht geben." Besser wäre deshalb eine Abschaffung der Ehe." In einer Zeit also, wo die Ehe wieder sehr angestrebt wird (aber gleichzeitig auch das Ausleben für einige schwerer wird), möchten gewisse Gruppierungen die Ehe abschaffen. Es scheint, wenn es nicht direkt geht, schafft man die Ehe so ab, indem man einfach eine Ehe für alle macht. Vielleicht wird es auch unbewusst angestrebt, weil man, wie Schaub meint, eine Art Prämie erhält, wenn man Heiraten kann.
Er beleuchtet dabei sehr viele Fassetten der Ehe. Das Recht der Kinder auf ihren leiblichen Vater und Mutter streift er aber nicht. Vermutlich hat das Neuheidentum sich in gewissen Kreisen so ausgebreitet, dass das Wohl und die Rechte der Kinder nicht mehr wirklich wichtig sind. Die Rechte der Mächtigeren, die müssen gestärkt werden. Es geht darum, dass ich, der was kann und weiss, mir die Welt so einrichte, wie ich es will. Der Postmoderne hat dazu noch eine Irrationalität, mit der er die Realität einfach ausblendet. Soweit geht Herr Schaub nicht. Aber man spürt diese Tendenz, etwas ändern zu wollen, damit es geändert ist und genau dem entspricht, was man sich ausgedacht hat. Nur, ob das, was man sich ausgedacht hat, überhaupt funtkioniert und die Menschen überhaupt wollen, blendet man einfach aus. Gerade gestern habe ich eine Statistik in Deutschland gesehen, wo über 50% der Ehepaare der Ehemann der Alleinverdiener ist. weitere 20 oder 25% waren teilweise noch Frauen am Einkommen beteiligt. Dann waren ca. 8% der Ehegatten 100% berufstätig und ca. weiter 8% 100% ohne Job. Auch hier scheint man unbedingt alle Kinder möglichst früh in Kindertagesstätten zu führen. Dabei gilt das Motto: Es sei zum Kindswohl. Aber kann es einem Kind bei seinen Eltern nicht auch wohl sein? Und braucht ein Kind nicht gerade in den ersten Lebensjahren seine Mutter, damit er eine "geerdete" Persönlichkeitsstruktur erhält? Und braucht nicht jedes Kind auch einen guten Vater, damit er oder sie ein charakterliches Rückrat erhält? Darüber kann man natürlich diskutieren, ob dem so sei. Gut ist es, wenn man es macht + auch die Realität miteinbzieht. Aber heute gibt es diesen postmoderne Doktrinen. Man nennt sie nicht so. Das war im Mittelalter oder im Christentum. Damals war man noch ehrlich und bezeichnete feste Behauptungen als Doktrin. Man gründete auch Universitäten, um u.a. darüber nachzudenken und zu disputieren. Doch der postmoderne Intellektuelle stellt sich diesem Prozess immer weniger. Er behauptet einfach und ist damit zufrieden. Dabei kommt auch der schöne Ausdruck: Man kann warten. D.h. jedes Jahr manipuliert man in seine Behauptung, bis die Leute sich dem fügen. Das kommt auch beim zweiten Beitrag über die eidgenössische Naitonalhymne heraus. Am Schluss heisst es, die neue (nicht offizielle) Hymne sei 2016 kaum gesungen worden. Es scheint schwer zu sein, die alte Hymne mit einer Hymne ohne Gott zu ersetzten. Gleichzeitig wird behauptet, wie viel besser die neue sei. Es geht also darum, der Vielfalt der Schweiz Rechnung zu tragen. Und das scheint zu bedeuten, dass Gott nicht mehr vorkommen soll. Die neue Hymne beziehe sich auf die Verfassung. Was natürlich cool ist. Nur auch in der Verfassung gibt es einen Gottes Bezug. Warum hat man denn diese Grundlage nicht ins neue Lied aufgenommen? "Liebe Gott den Herrn der Welt und Deinen Nächsten wie Dich selbst." fasst die biblische Botschaft zusammen, wie Jesus und auch die damaligen Pharisäer wussten. Was ist, wenn wir den Nächsten gar nicht Lieben können, wenn wir Gott nicht zuerst lieben? Dann fehlte uns die Grundlage, um mit unserem Nächsten anständig umzugehen. Eberhard Busch hat ein Buch geschrieben über die Theologie von Johannes Calvin. Er fasst seine Theologie so zusammen: Gotteserkenntis und Menschlichkeit. Calvin Verhalten gegenüber Servet habe nicht dieser Theologie entsprochen. Und hier sieht man auch ganz praktisch, wohin es führt, wenn wir nicht Gott und die Menschen lieben: Wir werden sehr radikal. (Natürlich wurde Servet nach den damals üblichen Rechtsgrundsätzen getötet. Und das besondere war, dass sich Genf überhaupt Gedanken machte, ob dies richtig sei. Sie liessen verschiedene Rechtsgutachten in Bern, Zürich usw., ja sogar von Melanchthon erstellen. Das war eigentlich besonders, weil man in den römisch-katholischen Gegenden in solchen Fällen schon wegen weniger so gehandelt hat.)
Bei der neuen Hymne versuchen sie es 2017 wieder. Sogar vier Altbundesräte werben mit. Und sie haben Zeit, Gott aus unserer Hymne zu vertreiben. Das dann die Hymne etwas schwebend wird, so ideologisch schwebend und ohne Erdung, sei hier nur nebenbei erwähnt. Und natürlich die alte Hymne ist etwas sperrig zu singen. Abe warum kann man nicht auch die eben geäusserten Gedanken hineinflechten? Sind wir heute wirklich in einem Kulturkampf, wo man alles christliche Abschaffen will? Warum wollen Sie das? Was ist der eigentliche Antrieb, warum man Gott los haben will?
Was ist, wenn wir in einem gewissen Sinn eine unsterbliche Seele haben und am Jüngsten Tag vor Gott über alles Rechenschaft geben müssen? Wäre es nicht besser, hier schon seine Sünden vergeben zu lassen und dadurch sich der Realität zu stellen und Barmherzigkeit zu lernen?
Was ist, wenn es so ist, wie es Paulus im Römerbrief schreibt, dass dann einmal unser eigenes Gewissen uns verteidigen und anklagen wird? Wir kennen hoffentlich noch alle das anklagende Gewissen! Was, wenn Gott nach unserem Tode unser Gewissen wieder richtig kalibriert? Und es keine Möglichkeit mehr gibt, dem zu entrinnen? Schrecklich! Es ist besser, sich hier schon damit auseinanderzusetzen und die Vergebung von Jesus Christus zu akzeptieren. Das tut weh. Unser Stolz hat das nicht gerne. Aber dieser Stolz ist nur ein Irrwitz! Tatsächlich werden wir nur so glücklich, indem wir uns von Jesus demütigen lassen. Daraus wächst auch eine unglaubliche Freiheit zu seinen Sünden stehen zu lernen, weil sie Jesus vergeben hat. In einem Streit hat mir mal ein Prediger gesagt, ich sei ein Sünder. - Ich war etwas erstaunt. Natürlich bin ich aus mir ein Sünder. Aber sicher nicht, weil ich eine andere Meinung zu einer Investition hatte! Vielleicht habe ich meine Meinung nicht korrekt wiedergeben und dort gesündigt. Vielleicht stimmten meine Motive nicht ganz? Ich bin mir zwar dessen nicht bewusst, aber es ist möglich. Doch ich fragte mich dann auch noch etwas anderes: Ist denn der Prediger nicht auch aus sich ein Sünder? Ist er sich seiner Problematik denn überhaupt bewusst? Ich kann nicht ins Herz von jemand anderem schauen. Das steht mir nicht zu. Ich habe heute noch eine freundschaftliche Beziehung zu diesem Prediger. Aber man fragt sich dann schon, ob in diesem Moment der Prediger in der Gande oder in den eingebildeten absolut guten Werken lebte.
ich schreibe dies nur, um zu zeigen, was für eine Freiheit man bekommt, auch in einem Streit über seine Fehler nachzudenken. In meiner Beziehung mit meiner Frau ist das natürlich noch viel intensiver. Da erkenne ich einiges, was ich besser machen könnte. Hier kommt übrigens auch noch etwas Interessantes: Sich entschuldigen ist Humanistisch. So ähnlich, wie sich selber erretten oder selber verbessern. Biblisch ist, um Vergebung zu bitten. Wenn ich jemanden Unrecht getan habe, bin ich in dessen Schuld. Zudem habe ich mich auch gegen Gott versündigt, der mir deswegen zürnt. Denn mein Nächster ist ein Geschöpft Gottes. Und ein Mensch ist das Ebenbild Gottes, wenn wir auch durch den Sündenfall etwas verbogen sind. Somit schlage ich in Angesichts Gottes, wenn ich einen Menschen ungerecht behandle, ihn beleidige usw. (Das passt auch zu den Aussagen von Jesus, als Mord und das Ausrufen von "Idiot" (oder so ähnlich) vergleicht. Auch das Alte Testament umschreibt, das Unrecht an einem Armen in diesem Sinne.)
Wir sehen, das eben gesagte zu: "Liebe Gott den Herrn der Welt und Deinen Nächsten wie Dich selber." konkretisiert sich hier mächtig.
JEsus Christus ist für meine Sünden am Kreuz gestorben. Darum wird der gerechte Zorn Gottes gegen mich gestielt. Meine Sünde hat Jesus gesühnt. Nun darf mir Gott der Vater vergeben, ohne das er dadurch ungerecht wäre. Die Gerechtigkeit wurde gewahrt, denn in Christus lebe nicht mehr ich, sondern Christus in mir (s. Römerbrief). IN Christus habe ich das Versprechen, dass die Erbsünde und auch jede einzelne Sünde von mir vergeben wird. Wenn ich zu Jesus gehe und um Vergebung bitte, weiss ich, dass Jesus mir vergibt und damit die Tore weit offen stehen, damit ich in Paradies gehen kann. Gott der Allmächtige wird so zu meinem lieben Vater.
Dem Nächsten oder eben im oberen Beispiel meine eigene Frau aber, der sollte ich natürlich nun auch noch um Vergebung bitten. Dabei ist es ihr oder auch meinem Nächsten freigestellt, ob er mir vergeben will. Jesus empfiehlt es, für das eigene Seelenheil. Ich aber, der Täter, kann das nicht verlangen. Ich darf nur bitten. Da meine Frau mich liebt, vergibt sie mir normalerweise gerne. Damit ist Versöhnung möglich. Bei Jesus ist sie aber sogar garantiert, wenn ich zu Jesus Christus gehe. Das ist ausserordentlich!
Danke Jesus!
Dies alles verbinde ich natürlich auch mit dem Begriff Gott. Und darum sollte er sehr wohl in der Verfassung, wie auch in unserer Hymne bleiben. Man kann es vermutlich noch besser, als in der aktuellen. Aber die Neue, bewusst ohne Gottesbezug, wird dadurch zu einer Luftibus Idee, die nicht den Härten des Lebens stand halten wird. Denn wie soll man sozial solidarisch leben, wenn der Nächste ein Eckel ist? Wie soll ich meinem Miteidgenossen vergeben, wenn er mich verletzt hat? Aber auch wenn alle sehr nett sind: Warum soll ich nicht nur an mich denken? Warum soll ich das Recht halten, auch wenn es es niemand merkt, wenn ich es breche?
Und das ist nun das Grösste: Gott möhte eigentlich, dass wir das Gute und die Gerechtigkeit lieben und darum nach ihr streben, auch wenn wir hier unfähig dazu sind. Gottes Liebe und was er alles für uns tut, sollte uns so bewusst werden, dass wir darum Gott anfangen zu lieben und darum das Gute wollen. Also selbst wenn es keine Strafe gäbe, wollen wir dann noch das Gute. Das ist wahre Freiheit!
Das ist natürlich eine Dimension, die wir nicht mit Gesetzen erreichen können. Darum müssen wir zwischen menschlicher und göttlicher Gerechtigkeit unterscheiden. Das erste ist eine armte Gerechtigkeit, die immer auch Busse braucht. Im Angesicht der göttlichen Gerechtigkeit verdient die menschliche Gerechtigkeit nicht mal das Wort Gerechtigkeit (s. Zwingli).
Auch dies gehört für mich in den Begriff Gott. Diese zweite Dimension, dass wir auch in unserer unperfekten uns nach der perfekten ausstrecken. Idealerweise führt uns das zu einem Leben der Busse und macht uns zu fröhlichen Sündern, wie es Luther sagen würde.
Ich frage mich in diesem Kulturkampf, warum die anderen so Zielstrebig und erfolgreich sein können. Ist den unsere christliche Position heute so schwach besetzt? Ja, wer weiss es denn überhaupt noch? Ja, was wird denn heute überhaupt gepredigt und geschrieben sowie gelesen?
Wo sind die Gemeinden und Kirchen, die ihre Mitglieder zu mündigen Gläubigen fördern, die ihre Gaben zu Hause und im beruflichen Alltag umsetzen? Da gibt es mal einen Neubekehrten bei der Bildzeitung. Es wirft gewaltige Wellen. Aber wo sind denn all die anderen vielen "gewöhnlichen" Wellen. Jene, die einfach treu da sind und die MEnschen wissen, es ist zwar nicht der Zeitgeist, aber wenigstens jemand vertrauenswrüdiger. (Dabei können wir Christen auch etwas ver-rückt wirken, weil wir es auch sind. Wir sind nicht von dieser Welt. Und das christliche Erbe löst sich von Jahr zu Jahr auf. Noch vor wenigen Jahren hat man von einer christlichen Leitkultur reden können. Das ist nun schon passeé. Heute können wir nur noch, das Heidentum in vernünftige Bahnen lenken: d.h. Sicherungen einbinden. Zum Beispiel soll jener der tötet nicht gleichzeitig ein Arzt sein, der Leben erhält. Wir können uns einsetzten, dass die Gewissensfreiheit für Aerzte bleibt und bei Hebammen wieder eingeführt wird. Doch nicht mal das machen wir. ich höre zumindest keinen Beitrag in diese Richtung.
Erst als man aktuell begann kleinere christliche Jugendarbeiten die Bundesgelder zu streichen und dann aus dem Jugend und Sport zu werfen, wachten viele auf. Das war natürlich erst der Anfang. Als nächsten wären dann CVJM und landeskirchliche Jugendarbeiten angegriffen worden. Am liebsten würden gewisse Kreise sowieso die Landeskirchen abschaffen und das gesamte Religiöse in den Privatraum verbannen. Das sie dabei eine Ideologie benötigen, die in die Lücke springen bedenken sie nicht. Und noch weniger, was für Gefahren in einer Ideologie stecken. Und das ist wohl das gefährlichste. Ich habe mal mit einem Ortspräsidenten der SP in einem Jugendchor gesungen. Der sagte mir er sei ein Sozial-DEMOKRAT. Mit Betonung auf Demokrat. Er sei kein Sozialist. Er kannte die Gefahren einer Ideologie. Und diese Gefahr müssen wir nicht nur auf diese politische Bewegung sehen, sondern in allen, ob rechts oder links. Denn seit dem Sündenfall neigen wir Menschen dazu das Gute zu pervertieren. Besonders wirksam wird das Böse, wenn es das Gute pervertieren kann und dabei möglichst viel Gutes bewahrt. Denn das Böse selber ist nur einfach zerstörrerisch und sinnlos bös. In der Bibel heisst es, der Teufel ist der wahre Menschenmörder. Er will einfach unseren Tod. Es ist Gottes Eingreifen, dass das Böse hier auch mal wieder aufhört und beschränkt ist. Das Böse selber wäre unbeschränkt böse. Bei uns Menschen ist es so, dass wir dazu neigen das Gute zu pervertieren. Aber normalerweise möchten wir glauben, dass wir besser sind, als wir sind. Darum versucht man sich anständig und gut zu benehmen. Gefährlich wird es aber, wenn jemand Sünde für etwas Gutes verkaufen will. Da geben wir manchmal gerne nach, damit wir unsere sündhaften Neigungen ausleben können. Es ist besser, wir leben unsere sündhaften Neigung nicht aus. Aber damit sind wir natürlich noch nicht gut. Aber genau das glauben wir! Wenn dann jemand weiss ich was auslebt, zeigen wir noch so gerne mit dem Finger auf ihn und sagen: "Dieser schlechte Kerl!" "Der hat es verdient." und fühlen uns oft dabei viel besser, als dieser offensichtliche Sünder. Aber genau das entlarvt uns als Sünder: Denn ein wirklich guter Mensch, der seinen Nächsten liebt, wäre traurig über das Verhalten des Sünders. Er würde als Erzieher oder Verantwortlicher auch heftig gegen die Sünde einschreiten. Aber er würde für den Sünder beten, dass er erkennt, was er da macht, damit er umkehren kann, d.h. Busse tun, also Reue zeigen und bei Jesus Christus um Vergebung bitten. Auch Gott im Alten Testament sagt, dass er nicht den Tod des Sünders wünscht, sondern das er umkehre und lebe! So anders ist Gott der Vater als der Teufel, der uns nur den Tod wünscht.
Dabei ist der Teufel selber nur ein Geschöpft Gottes. Dieser besonders schöne Lichtengel wollte wie Gott sein und verwickelte isch in ver-rückte Dinge.Ist er eiversüchtig, dass Gott für uns leiblich sterbbaren Menschen gestorben ist?
Darum wählen wir am besten Gott, der das Leben ist. Gott is so komplex, dass man auch von der Dreifaltigkeit oder Dreieinigkeit über ihn spricht, um diese für uns nicht zu fassende Persönlichkeit irgendwie auszudrücken.
Gott segne Sie. Damit meine ich, dass sie das Beste vom Besten erhalten. Das wünsche ich mir auch für unsere Gesellschaft, darum wünsche ich mir den Gottesbezug weiterhin auch in der Landeshymne, aber noch viel mehr in unseren Herzen.
Diesen Beitrag "500 Jahre Reformation – Licht und Schatten" von Prof. em. Dr. Armin Sierszyn hat mich beeindruckt. Sierszyn war reformiert-evangelischer Pfarrer und Dekan sowie Professor an der STH in Basel. Sein Beitrag wurde als theologische Beilage in der STH
Perspektiven im Februar 2017 veröffentlicht. Es gehört zum Thema der 500
Jahr-Feier der Reformation.
Der Beitrag hat mich tief beeindruckt und sollte uns alle zum Denken und Beten anregen.
„Das Salz der Erde
Jesus sendet seine Jünger hinaus in alle Welt: «Geht,
verkündet das Evangelium aller Kreatur! Ihr seid das Licht der Welt! Ihr seid
das Salz der Erde; wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen?
Es ist zu nichts mehr nütze, als dass man es wegschüttet und lässt es von den
Menschen zertreten» (Matth 5,13). Vermutlich erleben wir genau dies in unseren
Tagen. Die ganze Welt, auch die westliche, erfährt einen tiefgreifenden
Umbruch. Die alten Rezepte der intellektuellen Eliten sind verbraucht. Auch die
europäische Kirche, soweit sie dem Mainstream nachläuft, wird verachtet und
zertreten – nicht zuletzt von den Füssen derer, die sie in Scharen verlassen. Die
protestantische Kirche, einst berufen, Salz und Licht zu sein, weiss oft selbst
nicht mehr, wer sie ist und was sie soll. Sie wirkt müde und sorgt sich vor
allem ums eigene Überleben. Die Zürcher Landeskirche zum Beispiel diskutiert
ein ganzes Jahrzehnt über Geld, Stellenprozente und eigene Strukturen.
I.Martin Luther, Reformator der ersten Stunde
Um das Jahr 1500 ist die Kirche verbandelt mit Geld, Ungeist
und Politik. Seit dem 13./14. Jahrhundert steigt die Katholische Kirche auf zur
ersten Finanzmacht Europas (Papsttum in Avignon). Die ganze Armutsbewegung ist
ein mächtiger Protest gegen diesen Irrweg. Im Jahr 1500 regiert in Rom der
Renaissance-Papst Alexander VI. Mit seinen Maitressen zeugt er eine ganze Reihe
unehelicher Kinder, die er mit Ländereien und Fürstentümern beschenkt. Von
ihren Schäfchen verlangt die gleiche Kirche gute Moral oder wenigstens den
Loskauf von Sünden- und Fegefeuer-Strafen durch kaufbaren Ablass. Für etwa
einen Monatslohn kann sich jedermann von aller Sünden- und Todespein loskaufen
nach dem Motto: «Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel
springt». Gegen diese heuchlerischen Missbräuche wendet sich der
Augustinermönch und Doktor der Theologie Martin Luther in Wittenberg. Dieser
Ort, heute eine Autostunde vor Berlin gelegen, ist damals ein
2000-Seelen-Städtchen am nordöstlichen Rand der deutschen Zivilisation. In der
Bibel belesen und an Augustin geschult, bricht Martin Luther durch zu einer
damals neuen und revolutionären Entdeckung: Kein Mensch kann vor Gott bestehen,
geschweige denn sich freikaufen. Alle sind wir verloren. Alle. Im Römerbrief
von Paulus entdeckt Luther die reformatorische Botschaft, die ihn zu den
Pforten des Paradieses führt: Was kein Mensch vermag – das tat der lebendige
Gott: Er sandte seinen Sohn. Jesus Christus starb am Kreuz und zahlte ein für
alle Mal unsere Rechnungen – nicht mit Silber oder Gold, sondern mit dem
eigenen Blut! Dies alles tat und schenkt uns Gott ohne Bedingungen – aus
unergründlicher Liebe. Wer dieser Botschaft der Heiligen Schrift vertraut, ist
für Zeit und Ewigkeit gerettet. Nichts kann ihn scheiden von der Liebe Gottes;
der Glaube an Christus ist der feste Anker mitten im Sturm und Untergang. Am
Samstag vor Allerheiligen, am 31. Oktober 1517, schlägt Luther 95 lateinisch
geschriebene Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche. Zu Luthers
eigener Überraschung entfalten diese Thesen eine ungeheure öffentliche Wirkung.
These 1 lautet: «Da unser Herr und Meister spricht: Tut Busse, hat er gewollt,
dass das ganze Leben der Gläubigen eine Busse sei…». These 21: «Es irren alle
Ablassprediger, die sagen, durch den Ablass des Papstes werde der Mensch frei
von aller Strafe und selig…». Der Papst, so Luther weiter, soll eine
Peterskirche lieber mit seinem eigenen Geld, nicht mit dem der armen Gläubigen
bauen.1 Luthers Thesen verbreiten sich durch ganz Deutschland. Noch vor dem
Jahresende werden sie in Basel gelesen. Luthers Thesenanschlag gilt gemeinhin
als das Stichdatum für den Beginn der Reformation, und der 31. Oktober 1517 als der Tag, an dem das tausendjährige Mittelalter
endet.
Die deutsche Lutherbibel
Allein aus dem Wort Gottes wird die christliche Gemeinde
geboren.
Allein aus dem Wort Gottes erwächst den Predigern Weisheit
und Kraft.
Allein das Wort Gottes richtet, rettet und trägt die Welt.
Zur Reformation gehört zuerst und zuletzt die Bibel. Im Jahr
1500 lesen nicht einmal alle Priester in der Heiligen Schrift. Martin Luther
übersetzt die ganze Bibel Alten und Neuen Testaments in die deutsche Sprache.
Luthers Sprachgewalt und (1 Vgl. Luther Deutsch, Hg. K. Aland, II (3.A.1991),
32ff; A. Sierszyn, 2000 Jahre Kirchengeschichte (3.A.2015), 420– 423.)
(2 Theologische
Beilage zur STHPerspektive Februar 2017)
Sprachtalent sind
einmalig und bis heute unerreicht. Luthers deutsche Bibel schlägt buchstäblich
ein. Die neue Bibel wird zunächst besonders von der protestantischen Elite
rasch und gern gelesen. Der Reformator dolmetscht seinen lieben Deutschen
Gottes Wort geradezu ins Herz hinein. So wird die Lutherbibel zur Grundlage für
die neuhochdeutsche Sprache. Ohne die Lutherbibel gä- be es weder Goethe noch
Schiller. Vor allem aber wird die Lutherbibel zur Mutter der
evangelischlutherischen Kirche. Luther sucht in der Bibel immer die Mitte,
nämlich Jesus – und zwar den Gekreuzigten. Nicht auf hohe Worte menschlicher
Weisheit, auch nicht auf fromme oder überschwängliche Erlebnisse will er sich
verlassen, sondern allein auf das Wort vom Kreuz (1. Kor 1,18ff), das alles
menschliche Rühmen zunichtemacht.
Reformation – die Mutter der Volksschule
Weil das Wort Gottes
eine so hohe und zentrale Bedeutung für das ganze Leben hat, wird die
Reformation auch zur Mutter der Volksschule, und diese zu einem zentralen
Institut in den evangelischen Städten, Ländern und Dörfern. «Läsen, Schriben,
Bäten» sind die Kernkompetenzen, welche die Schule auch in der protestantischen
Schweiz vermitteln soll. Denn Menschen, die selber in der Bibel lesen können,
werden befähigt, Gott zu begegnen und sein Wort zu vernehmen. Wer die Bibel
liest, findet Rettung und Hoffnung, aber auch geistiges Profil. So werden Bibel
und Bildung zur Quelle für geistiges Humankapital in den protestantischen
Ländern Europas und später der USA.
Luther in Worms (1521)
Martin Luther rüttelt an einer korrumpierten Kirche und
Gesellschaft unter dem Einsatz seines Lebens. Weil er die Tabus der Mächtigen
berührt, droht ihm der Scheiterhaufen. Hundert Jahre zuvor, am 6. Juli 1415,
bezahlte Johannes Hus auf dem Konstanzer Konzil für seinen Einsatz zugunsten
einer Reform der Kirche mit dem Leben. Seine Asche wurde in den Rhein gestreut,
obwohl Kaiser Sigismund ihm sicheres Geleit versprochen hatte. Am 18. April
1521 soll Luther in Worms vor Kaiser, Fürsten und Stadträten aussagen. Vor den
höchsten Instanzen des Reichs erklärt der bereits Ge- ächtete an diesem
denkwürdigen Tag: «Mein Gewissen ist gefangen in Gottes Wort, darum kann und
will ich nichts widerrufen».2 Luther weiss: Auch in Worms könnte man
Ketzerasche in den Rhein streuen. Trotzdem bleibt der Reformator fest. Der 18.
April 1521 gilt in der europäischen Geschichte zu Recht als ein bedeutender
Tag. Da steht ein einzelner Mensch vor den höchsten politischen Instanzen und
beruft sich rückhaltlos auf Gottes Wort und sein Gewissen. Natürlich hat er
dies alles aus der Bibel gelernt (vgl. Röm 13,5; 1. Tim 1,19). Für die
europäische Geschichte der frü- hen Neuzeit ist es ein starkes Signal, dass
sich ein Mensch auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit beruft. Hier stösst
Luther ein Tor auf, das vom Mittelalter in die Neuzeit führt. Um Luther vor der
kaiserlichen Rache nach Ablauf der zugesagten Schutzfrist zu beschirmen,
entführen und verbergen ihn einige Freunde auf der tief im Thüringer Wald
gelegenen Wartburg.
Luthers Septemberbibel (1522)
In der Stille der Wartburg, hoch über ausgedehnten Wäldern,
übersetzt Martin Luther in der kurzen Zeit von nur elf Wochen das Neue
Testament in die deutsche Sprache. Luthers Neues Testament, das im September
1522 in Wittenberg in der hohen Auflage von 3000 Exemplaren erscheint (auch
Septemberbibel genannt), ist das wichtigste Dokument seiner Theologie. Die
ganze Bibel erscheint 1534 in deutscher Sprache. Luthers Schriften und
Handzettel flattern in Windeseile in aller Herren Länder. Auch in Basel werden
die Schriften des Reformators gedruckt. Die Reformation wird eine
«internationale» Bewegung.
SOLA SCRIPTURA = Allein die Schrift
SOLUS CHRISTUS = Allein Christus
SOLA GRATIA = Allein durch die Gnade
SOLA FIDE = Allein durch den Glauben Martin Luther 3 Die
verschiedenen Abendmahlslehren:
II.Ulrich Zwingli und die Zürcher Reformation
Auch in Zürich fällt der Same der Reformation auf guten
Boden. 1518 wird Ulrich Zwingli von Wildhaus, Pfarrer in Einsiedeln, als
Leutpriester ans Grossmünster gerufen. Hier soll er den Leuten predigen.
Zwingli beginnt seine Arbeit am Neujahrstag 1519 mit einer Auslegung des
Matthäusevangeliums. Auch in der Zürcher Reformation (2 Vgl. den Bericht über
Luthers Auftritt vor dem Reichstag am 17./18. April 1521 in: Kirchen- und Theologiegeschichte
in Quellen, Hg. H. A. Oberman, II (3.A.1988) Nr. 31, S. 58–61.)
spielt die Bibel die grundlegende und entscheidende Rolle.
Zwingli und sein Freund Leo Jud übersetzen die Bibel in Windeseile aus dem
Hebräischen und Griechischen in die deutsche Sprache. 1531 erscheint die erste
Froschauer-Bibel. Den Dominikanerinnen im Kloster Ötenbach ruft Zwingli zu:
«Eher verlässt die Natur ihren Lauf, als dass das Wort Gottes nicht erfüllt
werde!» Und in seinen Schlussreden (1523) schreibt der Reformator: «Die Heilige
Schrift muss mein und aller Menschen Richter sein; es darf aber nicht der
Mensch Richter über das Wort Gottes sein.» Auch Zwingli rüttelt an Tabus der
Zeit. In der Fastenzeit des Jahres 1522 nimmt er teil an einem (öffentlich
verbotenen) Wurstessen. Als der Duft der heissen Würste das Haus von
Druckermeister Froschauer erfüllt und alle (ausser Zwingli) zugreifen, öffnet
die illustre Runde das Fenster, damit die Stadtbewohner in den Gassen merken,
was geschieht. Ein Sturm der Entrüstung erfasst die Altgläubigen, Zwingli aber
predigt weiter das Wort Gottes.
Zürcher Disputationen: Die Kirche wird aus Gottes Wort
geboren
Die Disputationen sind eine Besonderheit der Zürcher
Reformation. Als die Wogen der Emotionen hochgehen, erlässt der Rat
Vernehmlassungen. Die Zürcher Kirchgemeinden dürfen sich durch Delegationen
«vernehmen lassen». Dabei bedient man sich nicht der Gelehrtensprache Latein,
sondern der alemannischen Dialektsprache des Volkes. Alle Gläubigen sind mündig
(allgemeines Priestertum)! Dabei geht es um die Frage: Welches ist die rechte
Kirche? Bis zu 600 Männer diskutieren mit Zwingli und seinen Freunden im alten Rathaus.
Als Richtschnur gilt allein die Bibel. Auch die Regierung schützt diesen
Standpunkt gegen- über Generalvikar Johann Faber aus Konstanz. Humanistische
Freunde von Zwingli vertreten allmählich eine radikale Form der Reformation.
Mitglied der Kirche, sagen sie, könne nur sein, wer bekehrt und gläubig getauft
sei. Zwingli ahnt, dass ein radikaler Weg die Zürcher Reformation in Blut und
Tränen ersticken müsste. 1523 stehen Zwingli und der Rat von Zürich noch allein
innerhalb der Eidgenossenschaft. Die Miteidgenossen würden die Limmatstadt mit
Gewalt rekatholisieren. Aber auch theologisch trennt sich hier Zwinglis Weg von
den Täufern. Mit Augustin unterscheidet er die sichtbare und die unsichtbare
Kirche. Nicht alle Glieder der sichtbaren Kirche sind wahrhaft gläubig, und
auch unter den scheinbar Frommen gibt es Heuchler. Darum ist die wahre Kirche
Jesu Christi unsichtbar. Nur Gott kennt die Seinen. Demgemäss kann Zwingli kurz
und bündig formulieren: «Welches ist Christi Kilch? Die sin Wort hört. Wo ist die
Kilch? Durch das ganze Erdrich hin. Wer ist sie? Alle Gleubigen. Wer kennt sie?
Gott.»3 Auch die 1. Berner These von 1528, von Zwingli beeinflusst, formuliert
klassisch reformatorisch: «Die heilig christenlich kilch, deren einig houpt
Christus ist, ist us dem wort gots geboren …»4
Das erste Nachtmahl am Ostertag 1525 im Grossmünster
Am Hohen Donnerstag, am Karfreitag und am Ostertag 1525 wird
im Zürcher Grossmünster das erste evangelische Abendmahl gefeiert. Gegen- über
der katholischen Messe wird das Mahl betont schlicht und biblisch-nüchtern
gefeiert. «Der Herr Jesus in der Nacht, da er verraten wurde, nahm das Brot …»
Die Gottesdienstteilnehmer empfangen ungesäuertes Brot (Oblaten) aus einer
hölzernen Schale und Wein aus hölzernen Kelchen. Anders als Luther5 deutet
Zwingli Brot und Wein symbolisch: «das bedeutet mein Leib, das bedeutet mein
Blut» usw. Diese Deutung Zwinglis hat sich in verschiedenen Freikirchen, nicht
aber in den reformierten Kirchen durchgesetzt. Hier gilt das Verständnis von
Johannes Calvin: Leib und Blut des erhöhten Christus sind durch den Heiligen
Geist gegenwärtig und werden mit dem Herzen geistlich empfangen. Goldene Geräte
und silberne Kelche haben keinen Platz. Auch schöne Kantaten und berührende
Musik stehen im Weg, wenn Gott spricht. Zwingli und später auch Calvin
vertreten eine puritanische Frömmigkeit. Was nicht ausdrücklich im Wort Gottes
geschrieben steht, selbst Orgeln, soll keinen Platz im Gottesdienst haben.
3 Zitat bei R. Reich, Zwingli gründete keine neue Kirche,
Kirchenbote des Kantons Zürich, 21.12.2007; Z III, 223,6–7.
4 Steck/Tobler, Aktensammlung Berner Reformation I (1923),
521.
5 Die verschiedenen Abendmahlslehren: Katholisch: Brot und
Wein verwandeln sich im Geheimnis der Eucharistie zu Leib und Blut Christi (Transsubstantiation).
Luther: Brot und Wein ändern sich nicht, aber der allgegenwärtige Christus
kommt mit seinem «durchgötterten» Fleisch und Blut zu Wein und Brot hinzu
(Konsubstantiation). Zwingli: Brot und Wein bedeuten Christi Leib und Blut
(symbolische Auffassung). Das Abendmahl ist eine Erinnerungsfeier an Christi
Tod und Auferstehung. Calvin: In Brot und Wein geniesst die gläubige Seele
Christi Leib und Blut durch den Heiligen Geist; der Ungläubige aber empfängt
nur irdisch Brot und Wein (geistlicher Genuss; geistlich ist mehr als geistig).
Zwingli, ein politischer Reformator
Zwingli stammt aus einer politischen Familie; sein Vater war
Gemeindepräsident von Wildhaus. Zwingli ist in seinem ganzen Naturell ein
draufgängerischer und auch ein politischer Reformator. Reformation bedeutet für
ihn zugleich Neuordnung der Gesellschaft im Gehorsam gegenüber Gottes Wort.
Neben der göttlichen gibt es auch eine elementare menschliche Gerechtigkeit zum
Beispiel «du sollst nicht stehlen». Zur menschlichen Gerechtigkeit gehören auch
Privateigentum, Kapital und Grundzinsen. Es ist die Aufgabe der Regierung, die
menschliche Gerechtigkeit durchzusetzen. Sie soll dafür sorgen, dass die
«stossenden Widder die blöden schäfli» nicht umbringen. Der Rat verbietet die
bisherigen Wucherzinsen (teils 25-50 %), gestattet aber Maximalzinsen bis 5 %.
Benedikt von Nursia schenkte dem Benediktinerorden schon im
Frühmittelalter das Motto «Bete und arbeite». Auch für Zwingli ist die Arbeit
nicht Last, sondern Gottesdienst und Ausdruck des Glaubens. Nicht nur der
melkende Bauer oder die Magd hinter der Mühle, auch die Arbeit in Handel,
Gewerbe, Handwerk, Regieren und Unterrichten werden positiv gewertet. Der
Bettel, der seit dem Spätmittelalter das Stadtbild zeichnete, wird verboten.
Fleiss, Sparsamkeit, getreue Geschäftsführung sind Teil des Gottesdienstes.
Dank des neuen Arbeitsethos blüht die Stadt auf. Im Jahrzehnt 1540/50 wächst
der Stadt ein Kapital von 100 000 Pfund zu, das die Regierung für
Gebietserweiterungen einsetzt. Diese neue Glaubensart bezeichnet man als
Puritanismus (purus = rein), d. h. Glaube und Leben im reformierten Zürich sind
«gereinigt» von unbiblischen Zutaten. Diese Tendenz wird sich im Calvinismus
eher noch verstärken.
Zürcher Reformation und soziale Reform
Die vom Staat konfiszierten Klostergüter dienen als
Grundlage zur staatlichen Fürsorge. Bei der Predigerkirche errichtet der Rat
einen «Mushafen» (wörtl. Breitopf) zur Ernährung der Armen. Das Mittelalter
duldete die Bettelei, interpretierte sie gar positiv: Im Bettler begegnet uns
der arme Jesus, wir sollen ihm helfen. Zugang zum Mushafen haben jetzt nur noch
unverschuldet Arme und Arbeitsunfähige, d. h. Kranke, Alte, arme Kinder, aber
auch Studenten. Faulpelze und Arbeitsscheue gehen leer aus.
III.Johannes Calvin und die Genfer Reformation
Johannes Calvin gehört zur zweiten Reformatoren-Generation.
Geboren 1509, ist Calvin 25 Jahre jünger als Luther und Zwingli. Calvin ist
Nordfranzose, Schüler Luthers, Humanist, promovierter Jurist, meistgelesener
Autor des 16. Jahrhunderts. Calvin ist der körperlich schwächste, in seiner
Wirkung aber der stärkste aller Reformatoren. 4300 erhaltene Briefe zeugen von
seiner europäischen Vernetzung. Calvin gilt als Ökumeniker unter den
Reformatoren. Mit Melanchthon, Bucer und katholischen Theologen sucht er in
Worms und Regensburg ernsthaft nach Wegen, die Glaubensspaltung zu überwinden.
Calvin ist indes nicht nur ein kirchlicher Reformator, sondern auch ein
scharfsinniger Intellektueller, dessen Wirkungen die ganze westliche Welt bis
heute prägen. Der Franzose Calvin – nicht Luther – hat die Reformation
weltläufig gemacht. Calvin gründet in Genf die Akademie. Durch diese
Kaderschmiede gehen hunderte, ja tausende Glaubensflüchtlinge, die unter dem
Schutz des starken Bern von Calvin gelehrt, geprägt und profiliert werden. Der
Schotte John Knox, als Glaubensflüchtling den französischen Galeeren entronnen,
empfängt in Genf sein Profil. Er soll die Calvinstadt mit dem Gebet verlassen haben:
«Herr, gib mir Schottland oder ich sterbe!» Schottland fällt ihm zu. Frankreich
zählt damals ca. 15 Mio. Einwohner, etwa eine Million – ein Grossteil des Adels
und der Gebildeten – öffnen sich dem Calvinismus (Hugenotten). So entsteht ein
entschlossener, kämpferischer und am Bibelwort profilierter Protestantismus in
Frankreich, Holland, England, Ungarn, aber auch in der Schweiz. Genf wird das
protestantische Rom genannt. Als die Kräfte des Luthertums erschlaffen und die
katholische Kirche zum Gegenschlag ausholt, ist es der calvinistische
Protestantismus, den Gott gebraucht, um die Reformation zu retten.
Kirche mit flacher Hierarchie
Calvins Kirchenverständnis ist für die damalige Zeit
einmalig, ja, eine Pioniertat. Die Kirche Calvins kennt weder Bischöfe noch
Prälaten. Sie wird gemeinsam geleitet durch vier Ämter, die er dem Neuen
Testament entnimmt: Presbyter, Pastoren, Lehrer und Diakone (vgl. Eph 4,11).
Dadurch entsteht eine neue Kirche mit flacher Hierarchie. In Calvins
Glaubenslehre (Institutio) wie im Bekenntnis der hugenottischen Nationalsynode
von Paris in Genf (1559) erscheint ein prägender Satz, den man sonst im 16. Jh.
kaum findet: «Niemand ergreife ein Amt,
er sei denn von der Gemeinde dazu erwählt».6 Dieser Satz, den Calvin «aus
Gottes Wort entnimmt»7 , ist ein früher Same für die spätere europäische Demokratie. 1559 beschliesst die
Nationalsynode in Paris das weitgehend von Calvin verfasste Gallikanische
Bekenntnis. Die (operative) Leitung der 50 Gemeinden wird ergänzt durch die
(gesetzgebende) Synode. Die Zürcher Kirche kennt dieses System schon seit 1531.
Durch die starke Ausbreitung der presbyterianischen Kirche wird Calvin
geschichtlich zum Schöpfer der westlichen Gewaltentrennung.8 Auf dem Weg über
calvinistische Siedler und durch den englischen Presbyterianer John Locke wird
Calvins zweistufiges Kirchenmodell zum Vorbild für die moderne amerikanische
Verfassung im 18. Jahrhundert (Gewaltentrennung). Im Calvinismus schlummert
grundsätzlich eine demokratisierende Sprengkraft, welche ab 1580 in Holland
gegen die spanische Krone aufscheint9 und im 17. Jahrhundert die englische
Revolution und die erste parlamentarische Demokratie der Welt mit heraufführt
(1689 Bill of Rights).
Die weltgeschichtliche Bedeutung des calvinistischen
Puritanismus
Die Genfer Reformation empfängt durch Johannes Calvin
puritanische Akzente, wie sie uns schon bei Zwingli begegnen. Mehr noch, das
Glaubensleben des Genfer Reformators selbst ist nicht ohne asketische Züge. Der
Vielbeschäftigte ist oft so sehr in seine Arbeit vertieft, dass er zu essen
vergisst, was seiner Gesundheit nicht zuträglich ist. Calvin kann mit Paulus
sagen: «Ich bezwinge meinen Leib und zähme ihn, damit ich nicht anderen predige
und selbst verwerflich werde» (1.Kor 9,27).
6 Calvin, Institutio (1559) IV,3.5; Confessio Gallicana
(1559) Art. 30, in: Bekenntnisse der Kirche, Hg. H. Steubing (1985), 131. 7
Calvin, Institutio IV, 3.5 8 Die Kirche von Genf bedarf noch keiner Synode,
dafür ist sie geographisch zu klein. Eine erste calvinistische Nationalsynode
tritt 1559 in Paris zusammen zur Statuierung der Confessio Gallicana
(Hugenotten-Bekenntnis), die in ihrem Kern auf Calvin zurückgeht. 9 «Ein Volk
ist nicht wegen des Fürsten da, sondern ein Fürst um des Volkes willen
geschaffen, denn ohne das Volk wäre er kein Fürst» (Unabhängigkeitserklärung
der calvinistischen Niederlande am 26.7.1581). Calvin lehrt ein
Widerstandsrecht der Etats généraux (Generalstände: Klerus, Adel, Dritter Stand
= freie Bauern & Bürger). Kriegerische Volkshaufen können sich nicht auf
Calvin berufen. Vgl. KThGQ III, Hg. H. Obermann (3.A.1988), 249f. (Predigt über
2. Sam. 5,4, ca. 1563).
So lebt Calvin in Genf und bezwingt in grosser Schwachheit
seine starken libertinischen Gegner in den Räten.10 Wer Calvin deshalb
Gesetzlichkeit vorwirft, hat ihn nicht verstanden. Dieser Reformator lehrt
nicht nur die evangelische Kreuzestheologie, er lebt sie auch wie kaum ein
Zweiter. Deshalb ist ihm bei allen Fehlern, die ihm unterlaufen, eine Vollmacht
und Geistesgegenwart gegeben, die ihresgleichen sucht. Selbst im Geheimen Rat
des französischen Königs werden seine Briefe mit grösstem Respekt studiert!
Im Calvinismus des 16. und 17. Jahrhunderts verstärken sich
puritanische Züge weiter, die schon bei Calvin angelegt sind. Der Calvinist
distanziert sich vom Treiben dieser Welt. Tanzbelustigungen, Karneval,
weltliches Spiel und Theater sind ihm ein Gräuel. Er lebt sparsam, bescheiden
und solid, während der Woche ist er äusserst arbeitsam und fleissig zur Ehre
Gottes, er achtet den Feiertag und sorgt für seine Familie.
Es versteht sich von selbst, dass puritanische Lebensweise
normalerweise nicht in Liederlichkeit und Armut führt, im Gegenteil. Reichtum
gilt im Calvinismus nicht als Sünde; auch Abraham war «sehr reich an Vieh,
Silber und Gold» (1. Mose 13,2), weil Gott ihn segnete. Schon Zwingli11
schreibt, dass Busse und lauteres Leben ein Zeichen der Erwählung sei. Später
glauben die Calvinisten, ehrlich erworbener Reichtum sei für Gläubige ein
Zeichen der persönlichen Gnade und Erwählung. Die Gewissheit der Erwählung aber
ist die stärkste Motivation, die ein Mensch bekommen kann. «Gnade und Erwählung
sind das Geheimnis und das Wesen der Geschichte», schreibt der Kulturphilosoph
Ernst Troeltsch.12 Kein Geringerer als Max Weber hat schon vor 100 Jahren
darauf hingewiesen, dass die puritanische Lebensweise Schmierfett für einen
gedeihlichen Staat mit florierender Wirtschaft ist, ja, dass der Calvinismus
mit seiner «innerweltlichen Askese» der
10 Vgl. A. Sierszyn, Mein Herz dem Herrn zum Opfer (2015),
31–42.
11 Zwingli schreibt in seiner «Vorsehung»: «Es gibt viele
Erwachsene, von denen wir nicht wahrnehmen, dass sie verworfen sind, bis sie
das durch schlechtes Handeln selbst verraten. Und umgekehrt gibt es viele, die,
auch wenn sie eine Zeit lang verbrecherisch gelebt haben, doch wieder auf den
rechten Weg zurückkehren und durch Busse und lauteres Leben zeigen, dass sie
vom Herrn erwählt sind.» Vgl. E. Künzli, Huldrych Zwingli. Auswahl seiner
Schriften (1962), 293.
12 E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme (1922),
101.
Die Kirche, die aus der Genfer Reformation hervorgeht, wird
gemeinschaftlich geleitet und kennt weder Bischöfe noch Prälaten (flache
Hierarchie): 1. Älteste (Presbyter, heute Kirchenpflege) 2. Hirten (Pastoren)
3. Lehrer (Docteurs) 4. Diakone Johannes Calvin 6 Reformation als
individualisierende Glaubensbewegung, die eine Pluralisierung der
Religionskultur ermöglicht
eigentliche Motor für
den Aufstieg des Westens und des Kapitalismus gewesen ist.13 In der Tat sind
Leistung, Bildung und Wissen (Lesen!) im calvinistischen Protestantismus
überaus positiv besetzt. So entsteht in protestantischen Gebieten schon früh
ein geistiges Humankapital, das Seinesgleichen sucht. In Genf selbst begründen
Calvinisten die Uhren- und Textilindustrie, später auch den Bankenplatz; ebenso
pflegen sie wachsame Beziehungen zum Rohstoffhandel. Der Genfer
Wirtschaftsprofessor Peter Tschopp bezeichnet den Genfer Bankenplatz als
«Spätgeburt des Calvinismus».14 Der Zuger Schriftsteller Thomas Hürlimann
erinnert sich: Noch in den 1950er Jahren war «bei der Landis & Gyr das
gesamte obere Kader mit Protestanten besetzt. Die Arbeiter hingegen waren
katholisch. Der Katholizismus hatte … gegen die protestantische Leistungsethik
keine Chance».15
Der Westen und der Rest der Welt
Ums Jahr 1500 kann der monolithische Machtblock China als
Nabel der Welt bezeichnet werden. Schon als Europa im Mittelalter noch
dahindämmert, erfinden die Chinesen im 11. Jahrhundert die mechanische Uhr, es
folgen die Druckerpresse, das Schiesspulver, das Papier, die Sämaschine, der
Kompass, die Karette und selbst ein kleines Gerät wie die Zahnbürste. China
besitzt im Mittelalter eine hochseetüchtige Kriegsflotte, deren Riesenschiffe
im 15. Jahrhundert die Ostküste Afrikas anfahren. Um das Jahr 1500 denkt
niemand an eine Weltherrschaft des kleinen Europa. Und doch steigt England im
17. Jahrhundert auf zur ersten Seemacht der Welt. Während China an seiner
Selbstzufriedenheit und Unbeweglichkeit zerfällt, erlebt England eine
(calvinistische) Revolution und wird 1689 zur weltweit ersten parlamentarischen
Demokratie. Demokratie und Freiheit aber schaffen Raum für Eigentum, Forschung,
Innovation und Wettbewerb. 2013 publizierte Niall Ferguson, weltberühmter
Historiker von Harvard und Oxford, ein Buch mit dem Titel «Der Westen und der
Rest der Welt».16 Auch Ferguson sieht in der calvinistischen Arbeitsethik den
entscheidenden Nährboden und Motor für den unerwarteten demokratischen,
industriellen und militärischen Aufstieg des Westens. Die Stärke des
(calvinistischen) Protestantismus als Nährboden der Kultur hat den schnellen
Aufstieg des kleinen Europa zum Vorort der Welt wesentlich mitermöglicht. Als
England und der Kontinent im 20. Jahrhundert ihren Zenit hinter sich lassen,
erreichen die protestantischen USA (u. a. dank immer neuer Erweckungen bis in
die 1950er Jahre) ihre volle geistige Kraft. Erst ab den 1960er Jahren beginnt
mit den Stössen säkularer Kulturrevolution hüben und drüben der kirchliche
Abstieg, was die Statistiken deutlich zeigen. Diesem Abstieg folgt der
kulturelle und politische Niedergang auf dem Fuss.
13 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des
Kapitalismus (1904/1920, 2015).
14 P. Tschopp, in: Zeitung «reformiert.» Vom 31.10.2008.
15 Th. Hürlimann, in: Der Tagesanzeiger vom 30.6.2011. 16
Niall Ferguson, Der Westen und der Rest der Welt. Die Geschichte vom Wettstreit
der Kulturen (2.A.2014).
Max Weber hat schon vor 100 Jahren darauf hingewiesen, dass
die puritanische Lebensweise Schmierfett für einen gedeihlichen Staat mit
florierender Wirtschaft ist, ja, dass der Calvinismus mit seiner
«innerweltlichen Askese» der eigentliche Motor für den Aufstieg des Westens und
des Kapitalismus gewesen ist.
IV.Schatten des Protestantismus
Dreierlei Schatten oder Defizite des Protestantismus sollen
in aller Kürze dargelegt werden.
1. Spaltung
Mit der Reformation ist eine nachhaltige und bis heute nicht
geheilte Spaltung, ja, eine Zerklüftung, in die abendländische Christenheit
eingedrungen. Selbstverständlich gab es in der Christenheit längst vor der
Reformation ungezählte Kirchenspaltungen. Bereits im 11. Jahrhundert trennen
sich die morgenländische und die abendländische Kirche nicht im Frieden. Die
Bewegungen der englischen Wycliffiten, der tschechischen Hussiten und der
Waldenser konnten im Spätmittelalter nur durch staatliche Gewalt unterdrückt
werden. Die Ketzerverfolgungen sind ein Jahrhunderte altes, düsteres Kapitel
der Kirchengeschichte. Insofern ist die Reformation wieder positiv einzustufen,
weil sie als individualisierende Glaubensbewegung eben auch eine Pluralisierung
der Religionskultur ermöglichte, die der Pietismus im 18. Jahrhundert noch
verstärkte. Hier liegen Ansätze (auch in Deutschland) zur späteren Toleranz und
Glaubensfreiheit.
2. Religionskriege
Eine schwerwiegende Folge von Reformation und
Gegenreformation sind die zahllosen europäischen Religionskriege, von denen der
Dreissigjährige Krieg (1618–1648) mit seinem ganzen Jammer, mit Pestseuchen und
sozialem Elend der schrecklichste ist. In ihrer grössten Not und
Ausweglosigkeit stossen die Menschen in ihrer Verzweiflung auf die Gesundheit
des Teufels an. Es sind nicht die Gottlosesten, sondern oft die Klugen und
Wachsamen, die ob all den Schrecken, den die Glaubenskriege auslösten, an der
Bibel und am Christentum irregeworden sind. Die Religionskriege sind die
tiefste Quelle für die Entstehung des abendländischen Skeptizismus und
Atheismus. Mit Händen greifen lässt sich diese Entwicklung in Frankreich, das
am Ende des 18. Jahrhunderts geistlich ausgeblutet ist. Auch hier kann die
Schuld nicht primär der Reformation zugewiesen werden; es sind in erster Linie
die Verhärtungen des konfessionellen Zeitalters, die hüben und drü- ben zu
schwersten Verwerfungen geführt haben.
3. Bibelkritik
Der dritte Schatten hängt mit dem zweiten zusammen und
betrifft den Neuprotestantismus ungleich stärker als die Katholische Kirche. Der
neuzeitliche Mensch in Europa verfällt dem Skeptizismus. Statt an Gott glauben
die Europäer mehr und mehr lieber an sich selbst. Aus dem individualisierten
Glauben bei Luther entwickelt sich ein schrankenloser säkularer
Individualismus, sprich Egoismus.
7 Der neuzeitliche Mensch in Europa verfällt dem
Skeptizismus. Statt an Gott glauben die Europäer mehr und mehr lieber an sich
selbst. Aus dem individualisierten Glauben bei Luther entwickelt sich ein
schrankenloser säkularer Individualismus, sprich Egoismus.
Statt dem Evangelium
Vertrauen zu schenken, erwächst als neuprotestantisches Gewächs eine am
naturwissenschaftlichen Methoden-Ideal orientierte Bibelkritik. Der europäische
(protestantische) Mensch erhebt sich über alles und lebt mehr oder weniger, als
ob es Gott nicht gäbe. Mit dem Verlust des Gotteswortes sterben die
europäischen Kirchen. Der Neuprotestantismus verliert seine Salzkraft für die
Gesellschaft, weil er nur noch nachzusprechen vermag, was trendige Medien
ohnehin schon vermelden. So wird das 500-Jahr-Jubiläum zur verordneten Feier
einer verhaltenen Verlegenheit. Weniger verlegen sind Stimmen, die 2011 nach
einem ausgelassenen Pride-Festival vermelden, dass durch diesen Grossanlass
Zürich wieder etwas weniger zwinglianisch geworden sei.17 Vor allem seit den
1960-er Jahren – in Deutschland schon früher – beginnt die innere Kraft des
Westens (zunächst kaum spürbar) zu sinken. Der Protestantismus ist daran, seine
eigenen Erfolge zu zerstören. Sterben heute in Europa die Kirchen, so wird
morgen der ganze Kontinent in den Untergang hineingezogen. Denn Europa ist
durch das Wort der Bibel geworden, es könnte den Verlust dieser Botschaft auf
die Dauer nicht überleben. Papst Johannes Paul II. hat schon 1990 zu einer
Neu-Evangelisierung Europas aufgerufen. Hatte er nicht Recht? Der
Neuprotestantismus schüttelte darüber verständnislos den Kopf. Seither hat der
Zeitgeist unsere Jugend weiter nach seinem Bilde geformt, unsere Medien
geleitet, zwischen Männern und Frauen einen Klassenkampf entfesselt, Millionen
von Kindern die Geburt verweigert, Kindern ihre Mütter und Väter entzogen und
Heranwachsenden die Findung ihrer Identität erschwert. Europa – einst der
Vorort der Welt – ist zum Spielball der Mächte geworden. Der Kontinent wirkt
alt und müde. Europa hat seine Sendung verraten, weil es (durch den
Neuprotestantismus) selbst verraten wurde. Statt der Stimme des guten Hirten zu
vertrauen, folgte es abgehobenen, irrealen Ideologien und Kulturidealen
(Idealismus, Sozialismen, Feminismus, Multikulturalismus und Genderismus). Die
protestantischen Eliten sind dabei besonders selbstbewusst vorangegangen.18 Das
ist ein tiefer Schatten des Protestantismus – und eine Schuld gegenüber Gottes
Wort und dem ganzen Kontinent.19
17 «Dank euch ist Zürich weniger zwinglianisch», in: NZZ vom
18.6.2011. Im Unterschied zur Kirche weiss man, dass ein Kulturkampf im Gange
ist.
Schlussgedanken
Durch die Reformation hat Gott besonders die Völker des
europäischen Nordens und des Westens, allen voran Deutschland und die Schweiz,
gerufen und gesegnet. Weshalb der Reformation im 16. Jahrhundert kein völliger
Durchbruch und Aufbruch in Kirche, Kultur und Politik beschieden war, bleibt
Gottes Geheimnis. Wenn wir als evangelische Kirchen, welcher Couleur auch
immer, feierlich der Reformation gedenken, so tun wir dies mit grossem Dank und
mit Freude. Denn die Reformation hat uns Menschen das helle Licht des Wortes
Gottes, die Freude der Heilsgewissheit und den letzten Trost wieder frei
zugänglich gemacht. Auch die im Westen erkämpfte Demokratie, die Wissenschaften
und die Industrialisierung (Wohlstand) sind ohne die Grundlage vor allem der
calvinistischen Reformation undenkbar.
18 1950 stellt Gerhard Ebeling fest: «Es ist der
erstaunlichste Vorgang der Theologiegeschichte der Neuzeit, dass es vor allem
die Theologen selbst waren, die unerschrocken und unerbittlich die
historisch-kritische Methode handhabten … Selbstverständliche
Allgemeingültigkeit besitzt jetzt nur noch, was der Mensch als solcher mit
seinen rationalen und empirischen Fähigkeiten erkennen, einsehen, begründen und
kontrollieren kann». Vgl. G. Ebeling, Die Bedeutung der historisch-kritischen
Methode für die protestantische Kirche und Theologie, in: ZThK (1950), 32f.
19 Vgl. A. Sierszyn, Der europäische Säkularismus, die
Sprachlosigkeit der Kirchen und die Gefährdung des Kontinents. Kleine Schriften
8 (2.A.2016).
Der Übermut des Neuprotestantismus hat nicht nur unseren
Kontinent und die ganze Welt mit bis an den Abgrund geführt; er hat durch seine
vermeintlich wissenschaftliche Kritik an der Bibel die Kirche ihres Lichtes
beraubt, das sie braucht, um zu überleben und für die Welt ein Segen zu sein.
Wir feiern das 500-Jahr-Jubiläum aber auch im Zeichen der
Busse über Glaubensstreit und todbringende Rechthaberei auf beiden Seiten der
Konfessionsgrenzen. Gewiss können wir unterschiedliche Glaubensweisen und
Traditionen nicht unüberlegt mit schneller Hand als belanglos beiseiteschieben.
Wir wollen als Christen aber auch nicht erst dann über die Konfessionsgrenzen
hinaus herzliche Gemeinschaft pflegen und zusammen beten, wenn Feinde des
Glaubens uns womöglich in den Kerker werfen und wir im Angesicht des Todes bei
Wasser und Brot miteinander die Zelle teilen.
Schliesslich hat der Übermut des Neuprotestantismus nicht
nur unseren Kontinent und die ganze Welt mit bis an den Abgrund geführt; er hat
durch seine vermeintlich wissenschaftliche Kritik an der Bibel die Kirche ihres
Lichtes beraubt, das sie braucht, um zu überleben und für die Welt ein Segen zu
sein. Die Bibelkritik ist es auch, die den westlichen Kirchen allzu oft die
Möglichkeit entzieht, in ethischen Grundfragen gemeinsam mit einer christlichen
Stimme zu sprechen, um den Kulturen in den europäischen Gesellschaften die
Suppe zu salzen.
500 Jahre Reformation sind ein Anstoss, im Raum der Kirche
und darüber hinaus die ausgetretenen Wege des Zeitgeistes und des Niedergangs
zu verlassen. Jesus Christus sagt seiner Kirche zu: «Ihr seid das Licht der
Welt, lasst euer Licht leuchten!» Können wir noch aufwachen? Können wir noch
ohne falsche Scham zum Evangelium stehen und seine starke Botschaft einem müde
gewordenen Kontinent gegenüber neu und froh bezeugen? Die europäischen Kirchen
präsentieren sich heute auf weite Strecken als völlig angepasst und eingeengt
unter der Glocke der politischen Korrektheit. Darum sehen wir diese Kirchen auf
so schmerzliche Weise zerfallen zu geistlichen Ruinen und bedeutungslosen
Grabmälern Gottes. Deshalb braucht Europa eine neue Reformation! Denn «Gottes
Wort ist nicht gebunden» (2. Tim 2,9). Das Evangelium ist eine Kraft Gottes,
die verändert – gestern und heute. Beten wir dafür? Wollen wir das überhaupt?
Der säkulare französische Schriftsteller Houellebecq spricht von der
Notwendigkeit, uns auf dem alten Kontinent wieder «in Gekreuzigte zu
verwandeln», denn einzig «eine spirituelle Macht wie das Christentum oder das
Judentum wäre imstande, der spiritueller Macht des Islam zu widerstehen.»20 Es
ist ein denkwürdiger, aber nicht unbiblischer Vorgang, dass der lebendige Gott
einen bekennenden Heiden dazu beruft, seine treulose Kirche an ihre eigentliche
Aufgabe zu erinnern. Viele europäische Christenmenschen verstehen vielleicht
nicht einmal, was uns dieser wache Zeitgenosse anmahnt, weil ihnen zeitlebens
einseitig und irreal nur die Süsse des Evangeliums gepredigt wurde. Als
«Gekreuzigter leben» ist für das Neue Testament indes eine
Selbstverständlichkeit (Mt 16,24; 2. Kor 4,7-12). Die Biografien von Paulus
oder von Johannes Calvin zeigen die Vollmacht dieser in Europa vergessenen
Christus-Nachfolge. Sind wir dazu bereit? Ich fürchte, nein. Unser serbelnder
Kirchen-, Polit und Kulturbetrieb ist uns trotz seinem offenkundigen Versagen
noch immer zu lieb. Vielleicht sind wir noch zu sehr verbandelt mit dem Schein
von Geld, Macht, Gier und Haschen nach Wind. Von den alttestamentlichen
Propheten lernen wir: In solch grosser Not und Gefährdung Europas kann die
Hilfe nur von oben kommen. Dafür sollen «die siebentausend» inständig beten,
«die ihre Knie nicht gebeugt haben vor Baal und jeder Mund, der ihn nicht
geküsst hat» (1. Kön 19,18). Die Irrwege und Busstage des alttestamentlichen
Gottesvolkes lehren uns: Gott kann sich unser und unserer Not erbarmen; er kann
die «Höhenwinde» drehen lassen (siehe z. B. die Wende durch Israels Buss- und
Bettag in 1. Sam 7). Er kann sich eine neue Generation und eine neue Kirche
berufen, die seinen prophetischen Ruf hört und seiner Stimme zu gehorchen
vermag. Gottes Wort nämlich ist die einzige Grösse, die nicht der Determination
und der berechenbaren Wahrscheinlichkeit unterliegt. Das ist unsere Hoffnung.
Ist die Kirche diesem Wort gehorsam, so bleibt sie frei – als einzige Grösse
dieser Welt. Deshalb wird nur eine Kirche und Generation, die ganz neu nach
Gottes Wort und Geist fragt und danach lebt, die Kraft haben, das müde Europa
zu erleuchten und wieder munter zu machen. Darum und um nichts weniger geht es,
wenn wir als Kirche der Reformation gedenken. So gehen wir mit unserer kleinen
Kraft neu ans Werk – aus unterschiedlichen Kirchen und Freikirchen. Mitten auf
einem gottvergessenen Kontinent in Schieflage stehen wir Hand in Hand auf dem
festen Grund, den er selbst gelegt hat (1. Kor 3,11) und der Europa bis heute
trägt. Und wir bekennen Gottes Heil und Gnade, die im Evangelium aller Welt kundgetan
wird.
20 G. Besier, in: Katholische Nachrichten, 30.9.2016; NZZ
Feuilleton, 27.9.2016."