Sonntag, 16. Juli 2017

500 Jahre Reformation - Licht und Schatten

Diesen Beitrag "500 Jahre Reformation – Licht und Schatten" von Prof. em. Dr. Armin Sierszyn hat mich beeindruckt. Sierszyn war reformiert-evangelischer Pfarrer und Dekan sowie Professor an der STH in Basel. Sein Beitrag wurde als theologische Beilage in der STH Perspektiven im Februar 2017 veröffentlicht. Es gehört zum Thema der 500 Jahr-Feier der Reformation. 
Der Beitrag hat mich tief beeindruckt und sollte uns alle zum Denken und Beten anregen.


„Das Salz der Erde

Jesus sendet seine Jünger hinaus in alle Welt: «Geht, verkündet das Evangelium aller Kreatur! Ihr seid das Licht der Welt! Ihr seid das Salz der Erde; wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen? Es ist zu nichts mehr nütze, als dass man es wegschüttet und lässt es von den Menschen zertreten» (Matth 5,13). Vermutlich erleben wir genau dies in unseren Tagen. Die ganze Welt, auch die westliche, erfährt einen tiefgreifenden Umbruch. Die alten Rezepte der intellektuellen Eliten sind verbraucht. Auch die europäische Kirche, soweit sie dem Mainstream nachläuft, wird verachtet und zertreten – nicht zuletzt von den Füssen derer, die sie in Scharen verlassen. Die protestantische Kirche, einst berufen, Salz und Licht zu sein, weiss oft selbst nicht mehr, wer sie ist und was sie soll. Sie wirkt müde und sorgt sich vor allem ums eigene Überleben. Die Zürcher Landeskirche zum Beispiel diskutiert ein ganzes Jahrzehnt über Geld, Stellenprozente und eigene Strukturen.

I.                    Martin Luther, Reformator der ersten Stunde
Um das Jahr 1500 ist die Kirche verbandelt mit Geld, Ungeist und Politik. Seit dem 13./14. Jahrhundert steigt die Katholische Kirche auf zur ersten Finanzmacht Europas (Papsttum in Avignon). Die ganze Armutsbewegung ist ein mächtiger Protest gegen diesen Irrweg. Im Jahr 1500 regiert in Rom der Renaissance-Papst Alexander VI. Mit seinen Maitressen zeugt er eine ganze Reihe unehelicher Kinder, die er mit Ländereien und Fürstentümern beschenkt. Von ihren Schäfchen verlangt die gleiche Kirche gute Moral oder wenigstens den Loskauf von Sünden- und Fegefeuer-Strafen durch kaufbaren Ablass. Für etwa einen Monatslohn kann sich jedermann von aller Sünden- und Todespein loskaufen nach dem Motto: «Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt». Gegen diese heuchlerischen Missbräuche wendet sich der Augustinermönch und Doktor der Theologie Martin Luther in Wittenberg. Dieser Ort, heute eine Autostunde vor Berlin gelegen, ist damals ein 2000-Seelen-Städtchen am nordöstlichen Rand der deutschen Zivilisation. In der Bibel belesen und an Augustin geschult, bricht Martin Luther durch zu einer damals neuen und revolutionären Entdeckung: Kein Mensch kann vor Gott bestehen, geschweige denn sich freikaufen. Alle sind wir verloren. Alle. Im Römerbrief von Paulus entdeckt Luther die reformatorische Botschaft, die ihn zu den Pforten des Paradieses führt: Was kein Mensch vermag – das tat der lebendige Gott: Er sandte seinen Sohn. Jesus Christus starb am Kreuz und zahlte ein für alle Mal unsere Rechnungen – nicht mit Silber oder Gold, sondern mit dem eigenen Blut! Dies alles tat und schenkt uns Gott ohne Bedingungen – aus unergründlicher Liebe. Wer dieser Botschaft der Heiligen Schrift vertraut, ist für Zeit und Ewigkeit gerettet. Nichts kann ihn scheiden von der Liebe Gottes; der Glaube an Christus ist der feste Anker mitten im Sturm und Untergang. Am Samstag vor Allerheiligen, am 31. Oktober 1517, schlägt Luther 95 lateinisch geschriebene Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche. Zu Luthers eigener Überraschung entfalten diese Thesen eine ungeheure öffentliche Wirkung. These 1 lautet: «Da unser Herr und Meister spricht: Tut Busse, hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen eine Busse sei…». These 21: «Es irren alle Ablassprediger, die sagen, durch den Ablass des Papstes werde der Mensch frei von aller Strafe und selig…». Der Papst, so Luther weiter, soll eine Peterskirche lieber mit seinem eigenen Geld, nicht mit dem der armen Gläubigen bauen.1 Luthers Thesen verbreiten sich durch ganz Deutschland. Noch vor dem Jahresende werden sie in Basel gelesen. Luthers Thesenanschlag gilt gemeinhin als das Stichdatum für den Beginn der Reformation, und der 31. Oktober 1517 als der Tag, an dem das tausendjährige Mittelalter endet.

Die deutsche Lutherbibel
Allein aus dem Wort Gottes wird die christliche Gemeinde geboren.
Allein aus dem Wort Gottes erwächst den Predigern Weisheit und Kraft.
Allein das Wort Gottes richtet, rettet und trägt die Welt.

Zur Reformation gehört zuerst und zuletzt die Bibel. Im Jahr 1500 lesen nicht einmal alle Priester in der Heiligen Schrift. Martin Luther übersetzt die ganze Bibel Alten und Neuen Testaments in die deutsche Sprache. Luthers Sprachgewalt und (1 Vgl. Luther Deutsch, Hg. K. Aland, II (3.A.1991), 32ff; A. Sierszyn, 2000 Jahre Kirchengeschichte (3.A.2015), 420– 423.)
 (2 Theologische Beilage zur STHPerspektive Februar 2017)
 Sprachtalent sind einmalig und bis heute unerreicht. Luthers deutsche Bibel schlägt buchstäblich ein. Die neue Bibel wird zunächst besonders von der protestantischen Elite rasch und gern gelesen. Der Reformator dolmetscht seinen lieben Deutschen Gottes Wort geradezu ins Herz hinein. So wird die Lutherbibel zur Grundlage für die neuhochdeutsche Sprache. Ohne die Lutherbibel gä- be es weder Goethe noch Schiller. Vor allem aber wird die Lutherbibel zur Mutter der evangelischlutherischen Kirche. Luther sucht in der Bibel immer die Mitte, nämlich Jesus – und zwar den Gekreuzigten. Nicht auf hohe Worte menschlicher Weisheit, auch nicht auf fromme oder überschwängliche Erlebnisse will er sich verlassen, sondern allein auf das Wort vom Kreuz (1. Kor 1,18ff), das alles menschliche Rühmen zunichtemacht.

Reformation – die Mutter der Volksschule

 Weil das Wort Gottes eine so hohe und zentrale Bedeutung für das ganze Leben hat, wird die Reformation auch zur Mutter der Volksschule, und diese zu einem zentralen Institut in den evangelischen Städten, Ländern und Dörfern. «Läsen, Schriben, Bäten» sind die Kernkompetenzen, welche die Schule auch in der protestantischen Schweiz vermitteln soll. Denn Menschen, die selber in der Bibel lesen können, werden befähigt, Gott zu begegnen und sein Wort zu vernehmen. Wer die Bibel liest, findet Rettung und Hoffnung, aber auch geistiges Profil. So werden Bibel und Bildung zur Quelle für geistiges Humankapital in den protestantischen Ländern Europas und später der USA.

Luther in Worms (1521)

Martin Luther rüttelt an einer korrumpierten Kirche und Gesellschaft unter dem Einsatz seines Lebens. Weil er die Tabus der Mächtigen berührt, droht ihm der Scheiterhaufen. Hundert Jahre zuvor, am 6. Juli 1415, bezahlte Johannes Hus auf dem Konstanzer Konzil für seinen Einsatz zugunsten einer Reform der Kirche mit dem Leben. Seine Asche wurde in den Rhein gestreut, obwohl Kaiser Sigismund ihm sicheres Geleit versprochen hatte. Am 18. April 1521 soll Luther in Worms vor Kaiser, Fürsten und Stadträten aussagen. Vor den höchsten Instanzen des Reichs erklärt der bereits Ge- ächtete an diesem denkwürdigen Tag: «Mein Gewissen ist gefangen in Gottes Wort, darum kann und will ich nichts widerrufen».2 Luther weiss: Auch in Worms könnte man Ketzerasche in den Rhein streuen. Trotzdem bleibt der Reformator fest. Der 18. April 1521 gilt in der europäischen Geschichte zu Recht als ein bedeutender Tag. Da steht ein einzelner Mensch vor den höchsten politischen Instanzen und beruft sich rückhaltlos auf Gottes Wort und sein Gewissen. Natürlich hat er dies alles aus der Bibel gelernt (vgl. Röm 13,5; 1. Tim 1,19). Für die europäische Geschichte der frü- hen Neuzeit ist es ein starkes Signal, dass sich ein Mensch auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit beruft. Hier stösst Luther ein Tor auf, das vom Mittelalter in die Neuzeit führt. Um Luther vor der kaiserlichen Rache nach Ablauf der zugesagten Schutzfrist zu beschirmen, entführen und verbergen ihn einige Freunde auf der tief im Thüringer Wald gelegenen Wartburg.

Luthers Septemberbibel (1522)

In der Stille der Wartburg, hoch über ausgedehnten Wäldern, übersetzt Martin Luther in der kurzen Zeit von nur elf Wochen das Neue Testament in die deutsche Sprache. Luthers Neues Testament, das im September 1522 in Wittenberg in der hohen Auflage von 3000 Exemplaren erscheint (auch Septemberbibel genannt), ist das wichtigste Dokument seiner Theologie. Die ganze Bibel erscheint 1534 in deutscher Sprache. Luthers Schriften und Handzettel flattern in Windeseile in aller Herren Länder. Auch in Basel werden die Schriften des Reformators gedruckt. Die Reformation wird eine «internationale» Bewegung.

SOLA SCRIPTURA = Allein die Schrift
SOLUS CHRISTUS = Allein Christus
SOLA GRATIA = Allein durch die Gnade
SOLA FIDE = Allein durch den Glauben Martin Luther 3 Die verschiedenen Abendmahlslehren:


II.                  Ulrich Zwingli und die Zürcher Reformation

Auch in Zürich fällt der Same der Reformation auf guten Boden. 1518 wird Ulrich Zwingli von Wildhaus, Pfarrer in Einsiedeln, als Leutpriester ans Grossmünster gerufen. Hier soll er den Leuten predigen. Zwingli beginnt seine Arbeit am Neujahrstag 1519 mit einer Auslegung des Matthäusevangeliums. Auch in der Zürcher Reformation (2 Vgl. den Bericht über Luthers Auftritt vor dem Reichstag am 17./18. April 1521 in: Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Hg. H. A. Oberman, II (3.A.1988) Nr. 31, S. 58–61.)
spielt die Bibel die grundlegende und entscheidende Rolle. Zwingli und sein Freund Leo Jud übersetzen die Bibel in Windeseile aus dem Hebräischen und Griechischen in die deutsche Sprache. 1531 erscheint die erste Froschauer-Bibel. Den Dominikanerinnen im Kloster Ötenbach ruft Zwingli zu: «Eher verlässt die Natur ihren Lauf, als dass das Wort Gottes nicht erfüllt werde!» Und in seinen Schlussreden (1523) schreibt der Reformator: «Die Heilige Schrift muss mein und aller Menschen Richter sein; es darf aber nicht der Mensch Richter über das Wort Gottes sein.» Auch Zwingli rüttelt an Tabus der Zeit. In der Fastenzeit des Jahres 1522 nimmt er teil an einem (öffentlich verbotenen) Wurstessen. Als der Duft der heissen Würste das Haus von Druckermeister Froschauer erfüllt und alle (ausser Zwingli) zugreifen, öffnet die illustre Runde das Fenster, damit die Stadtbewohner in den Gassen merken, was geschieht. Ein Sturm der Entrüstung erfasst die Altgläubigen, Zwingli aber predigt weiter das Wort Gottes.

Zürcher Disputationen: Die Kirche wird aus Gottes Wort geboren

Die Disputationen sind eine Besonderheit der Zürcher Reformation. Als die Wogen der Emotionen hochgehen, erlässt der Rat Vernehmlassungen. Die Zürcher Kirchgemeinden dürfen sich durch Delegationen «vernehmen lassen». Dabei bedient man sich nicht der Gelehrtensprache Latein, sondern der alemannischen Dialektsprache des Volkes. Alle Gläubigen sind mündig (allgemeines Priestertum)! Dabei geht es um die Frage: Welches ist die rechte Kirche? Bis zu 600 Männer diskutieren mit Zwingli und seinen Freunden im alten Rathaus. Als Richtschnur gilt allein die Bibel. Auch die Regierung schützt diesen Standpunkt gegen- über Generalvikar Johann Faber aus Konstanz. Humanistische Freunde von Zwingli vertreten allmählich eine radikale Form der Reformation. Mitglied der Kirche, sagen sie, könne nur sein, wer bekehrt und gläubig getauft sei. Zwingli ahnt, dass ein radikaler Weg die Zürcher Reformation in Blut und Tränen ersticken müsste. 1523 stehen Zwingli und der Rat von Zürich noch allein innerhalb der Eidgenossenschaft. Die Miteidgenossen würden die Limmatstadt mit Gewalt rekatholisieren. Aber auch theologisch trennt sich hier Zwinglis Weg von den Täufern. Mit Augustin unterscheidet er die sichtbare und die unsichtbare Kirche. Nicht alle Glieder der sichtbaren Kirche sind wahrhaft gläubig, und auch unter den scheinbar Frommen gibt es Heuchler. Darum ist die wahre Kirche Jesu Christi unsichtbar. Nur Gott kennt die Seinen. Demgemäss kann Zwingli kurz und bündig formulieren: «Welches ist Christi Kilch? Die sin Wort hört. Wo ist die Kilch? Durch das ganze Erdrich hin. Wer ist sie? Alle Gleubigen. Wer kennt sie? Gott.»3 Auch die 1. Berner These von 1528, von Zwingli beeinflusst, formuliert klassisch reformatorisch: «Die heilig christenlich kilch, deren einig houpt Christus ist, ist us dem wort gots geboren …»4

Das erste Nachtmahl am Ostertag 1525 im Grossmünster

Am Hohen Donnerstag, am Karfreitag und am Ostertag 1525 wird im Zürcher Grossmünster das erste evangelische Abendmahl gefeiert. Gegen- über der katholischen Messe wird das Mahl betont schlicht und biblisch-nüchtern gefeiert. «Der Herr Jesus in der Nacht, da er verraten wurde, nahm das Brot …» Die Gottesdienstteilnehmer empfangen ungesäuertes Brot (Oblaten) aus einer hölzernen Schale und Wein aus hölzernen Kelchen. Anders als Luther5 deutet Zwingli Brot und Wein symbolisch: «das bedeutet mein Leib, das bedeutet mein Blut» usw. Diese Deutung Zwinglis hat sich in verschiedenen Freikirchen, nicht aber in den reformierten Kirchen durchgesetzt. Hier gilt das Verständnis von Johannes Calvin: Leib und Blut des erhöhten Christus sind durch den Heiligen Geist gegenwärtig und werden mit dem Herzen geistlich empfangen. Goldene Geräte und silberne Kelche haben keinen Platz. Auch schöne Kantaten und berührende Musik stehen im Weg, wenn Gott spricht. Zwingli und später auch Calvin vertreten eine puritanische Frömmigkeit. Was nicht ausdrücklich im Wort Gottes geschrieben steht, selbst Orgeln, soll keinen Platz im Gottesdienst haben.

3 Zitat bei R. Reich, Zwingli gründete keine neue Kirche, Kirchenbote des Kantons Zürich, 21.12.2007; Z III, 223,6–7.
4 Steck/Tobler, Aktensammlung Berner Reformation I (1923), 521.
5 Die verschiedenen Abendmahlslehren: Katholisch: Brot und Wein verwandeln sich im Geheimnis der Eucharistie zu Leib und Blut Christi (Transsubstantiation). Luther: Brot und Wein ändern sich nicht, aber der allgegenwärtige Christus kommt mit seinem «durchgötterten» Fleisch und Blut zu Wein und Brot hinzu (Konsubstantiation). Zwingli: Brot und Wein bedeuten Christi Leib und Blut (symbolische Auffassung). Das Abendmahl ist eine Erinnerungsfeier an Christi Tod und Auferstehung. Calvin: In Brot und Wein geniesst die gläubige Seele Christi Leib und Blut durch den Heiligen Geist; der Ungläubige aber empfängt nur irdisch Brot und Wein (geistlicher Genuss; geistlich ist mehr als geistig).

Zwingli, ein politischer Reformator

Zwingli stammt aus einer politischen Familie; sein Vater war Gemeindepräsident von Wildhaus. Zwingli ist in seinem ganzen Naturell ein draufgängerischer und auch ein politischer Reformator. Reformation bedeutet für ihn zugleich Neuordnung der Gesellschaft im Gehorsam gegenüber Gottes Wort. Neben der göttlichen gibt es auch eine elementare menschliche Gerechtigkeit zum Beispiel «du sollst nicht stehlen». Zur menschlichen Gerechtigkeit gehören auch Privateigentum, Kapital und Grundzinsen. Es ist die Aufgabe der Regierung, die menschliche Gerechtigkeit durchzusetzen. Sie soll dafür sorgen, dass die «stossenden Widder die blöden schäfli» nicht umbringen. Der Rat verbietet die bisherigen Wucherzinsen (teils 25-50 %), gestattet aber Maximalzinsen bis 5 %.

Benedikt von Nursia schenkte dem Benediktinerorden schon im Frühmittelalter das Motto «Bete und arbeite». Auch für Zwingli ist die Arbeit nicht Last, sondern Gottesdienst und Ausdruck des Glaubens. Nicht nur der melkende Bauer oder die Magd hinter der Mühle, auch die Arbeit in Handel, Gewerbe, Handwerk, Regieren und Unterrichten werden positiv gewertet. Der Bettel, der seit dem Spätmittelalter das Stadtbild zeichnete, wird verboten. Fleiss, Sparsamkeit, getreue Geschäftsführung sind Teil des Gottesdienstes. Dank des neuen Arbeitsethos blüht die Stadt auf. Im Jahrzehnt 1540/50 wächst der Stadt ein Kapital von 100 000 Pfund zu, das die Regierung für Gebietserweiterungen einsetzt. Diese neue Glaubensart bezeichnet man als Puritanismus (purus = rein), d. h. Glaube und Leben im reformierten Zürich sind «gereinigt» von unbiblischen Zutaten. Diese Tendenz wird sich im Calvinismus eher noch verstärken.

Zürcher Reformation und soziale Reform

Die vom Staat konfiszierten Klostergüter dienen als Grundlage zur staatlichen Fürsorge. Bei der Predigerkirche errichtet der Rat einen «Mushafen» (wörtl. Breitopf) zur Ernährung der Armen. Das Mittelalter duldete die Bettelei, interpretierte sie gar positiv: Im Bettler begegnet uns der arme Jesus, wir sollen ihm helfen. Zugang zum Mushafen haben jetzt nur noch unverschuldet Arme und Arbeitsunfähige, d. h. Kranke, Alte, arme Kinder, aber auch Studenten. Faulpelze und Arbeitsscheue gehen leer aus.

III.                Johannes Calvin und die Genfer Reformation

Johannes Calvin gehört zur zweiten Reformatoren-Generation. Geboren 1509, ist Calvin 25 Jahre jünger als Luther und Zwingli. Calvin ist Nordfranzose, Schüler Luthers, Humanist, promovierter Jurist, meistgelesener Autor des 16. Jahrhunderts. Calvin ist der körperlich schwächste, in seiner Wirkung aber der stärkste aller Reformatoren. 4300 erhaltene Briefe zeugen von seiner europäischen Vernetzung. Calvin gilt als Ökumeniker unter den Reformatoren. Mit Melanchthon, Bucer und katholischen Theologen sucht er in Worms und Regensburg ernsthaft nach Wegen, die Glaubensspaltung zu überwinden. Calvin ist indes nicht nur ein kirchlicher Reformator, sondern auch ein scharfsinniger Intellektueller, dessen Wirkungen die ganze westliche Welt bis heute prägen. Der Franzose Calvin – nicht Luther – hat die Reformation weltläufig gemacht. Calvin gründet in Genf die Akademie. Durch diese Kaderschmiede gehen hunderte, ja tausende Glaubensflüchtlinge, die unter dem Schutz des starken Bern von Calvin gelehrt, geprägt und profiliert werden. Der Schotte John Knox, als Glaubensflüchtling den französischen Galeeren entronnen, empfängt in Genf sein Profil. Er soll die Calvinstadt mit dem Gebet verlassen haben: «Herr, gib mir Schottland oder ich sterbe!» Schottland fällt ihm zu. Frankreich zählt damals ca. 15 Mio. Einwohner, etwa eine Million – ein Grossteil des Adels und der Gebildeten – öffnen sich dem Calvinismus (Hugenotten). So entsteht ein entschlossener, kämpferischer und am Bibelwort profilierter Protestantismus in Frankreich, Holland, England, Ungarn, aber auch in der Schweiz. Genf wird das protestantische Rom genannt. Als die Kräfte des Luthertums erschlaffen und die katholische Kirche zum Gegenschlag ausholt, ist es der calvinistische Protestantismus, den Gott gebraucht, um die Reformation zu retten.

Kirche mit flacher Hierarchie

Calvins Kirchenverständnis ist für die damalige Zeit einmalig, ja, eine Pioniertat. Die Kirche Calvins kennt weder Bischöfe noch Prälaten. Sie wird gemeinsam geleitet durch vier Ämter, die er dem Neuen Testament entnimmt: Presbyter, Pastoren, Lehrer und Diakone (vgl. Eph 4,11). Dadurch entsteht eine neue Kirche mit flacher Hierarchie. In Calvins Glaubenslehre (Institutio) wie im Bekenntnis der hugenottischen Nationalsynode von Paris in Genf (1559) erscheint ein prägender Satz, den man sonst im 16. Jh. kaum findet: «Niemand ergreife ein Amt, er sei denn von der Gemeinde dazu erwählt».6 Dieser Satz, den Calvin «aus Gottes Wort entnimmt»7 , ist ein früher Same für die spätere europäische Demokratie. 1559 beschliesst die Nationalsynode in Paris das weitgehend von Calvin verfasste Gallikanische Bekenntnis. Die (operative) Leitung der 50 Gemeinden wird ergänzt durch die (gesetzgebende) Synode. Die Zürcher Kirche kennt dieses System schon seit 1531. Durch die starke Ausbreitung der presbyterianischen Kirche wird Calvin geschichtlich zum Schöpfer der westlichen Gewaltentrennung.8 Auf dem Weg über calvinistische Siedler und durch den englischen Presbyterianer John Locke wird Calvins zweistufiges Kirchenmodell zum Vorbild für die moderne amerikanische Verfassung im 18. Jahrhundert (Gewaltentrennung). Im Calvinismus schlummert grundsätzlich eine demokratisierende Sprengkraft, welche ab 1580 in Holland gegen die spanische Krone aufscheint9 und im 17. Jahrhundert die englische Revolution und die erste parlamentarische Demokratie der Welt mit heraufführt (1689 Bill of Rights).

Die weltgeschichtliche Bedeutung des calvinistischen Puritanismus

Die Genfer Reformation empfängt durch Johannes Calvin puritanische Akzente, wie sie uns schon bei Zwingli begegnen. Mehr noch, das Glaubensleben des Genfer Reformators selbst ist nicht ohne asketische Züge. Der Vielbeschäftigte ist oft so sehr in seine Arbeit vertieft, dass er zu essen vergisst, was seiner Gesundheit nicht zuträglich ist. Calvin kann mit Paulus sagen: «Ich bezwinge meinen Leib und zähme ihn, damit ich nicht anderen predige und selbst verwerflich werde» (1.Kor 9,27).

6 Calvin, Institutio (1559) IV,3.5; Confessio Gallicana (1559) Art. 30, in: Bekenntnisse der Kirche, Hg. H. Steubing (1985), 131. 7 Calvin, Institutio IV, 3.5 8 Die Kirche von Genf bedarf noch keiner Synode, dafür ist sie geographisch zu klein. Eine erste calvinistische Nationalsynode tritt 1559 in Paris zusammen zur Statuierung der Confessio Gallicana (Hugenotten-Bekenntnis), die in ihrem Kern auf Calvin zurückgeht. 9 «Ein Volk ist nicht wegen des Fürsten da, sondern ein Fürst um des Volkes willen geschaffen, denn ohne das Volk wäre er kein Fürst» (Unabhängigkeitserklärung der calvinistischen Niederlande am 26.7.1581). Calvin lehrt ein Widerstandsrecht der Etats généraux (Generalstände: Klerus, Adel, Dritter Stand = freie Bauern & Bürger). Kriegerische Volkshaufen können sich nicht auf Calvin berufen. Vgl. KThGQ III, Hg. H. Obermann (3.A.1988), 249f. (Predigt über 2. Sam. 5,4, ca. 1563).

So lebt Calvin in Genf und bezwingt in grosser Schwachheit seine starken libertinischen Gegner in den Räten.10 Wer Calvin deshalb Gesetzlichkeit vorwirft, hat ihn nicht verstanden. Dieser Reformator lehrt nicht nur die evangelische Kreuzestheologie, er lebt sie auch wie kaum ein Zweiter. Deshalb ist ihm bei allen Fehlern, die ihm unterlaufen, eine Vollmacht und Geistesgegenwart gegeben, die ihresgleichen sucht. Selbst im Geheimen Rat des französischen Königs werden seine Briefe mit grösstem Respekt studiert!

Im Calvinismus des 16. und 17. Jahrhunderts verstärken sich puritanische Züge weiter, die schon bei Calvin angelegt sind. Der Calvinist distanziert sich vom Treiben dieser Welt. Tanzbelustigungen, Karneval, weltliches Spiel und Theater sind ihm ein Gräuel. Er lebt sparsam, bescheiden und solid, während der Woche ist er äusserst arbeitsam und fleissig zur Ehre Gottes, er achtet den Feiertag und sorgt für seine Familie.

Es versteht sich von selbst, dass puritanische Lebensweise normalerweise nicht in Liederlichkeit und Armut führt, im Gegenteil. Reichtum gilt im Calvinismus nicht als Sünde; auch Abraham war «sehr reich an Vieh, Silber und Gold» (1. Mose 13,2), weil Gott ihn segnete. Schon Zwingli11 schreibt, dass Busse und lauteres Leben ein Zeichen der Erwählung sei. Später glauben die Calvinisten, ehrlich erworbener Reichtum sei für Gläubige ein Zeichen der persönlichen Gnade und Erwählung. Die Gewissheit der Erwählung aber ist die stärkste Motivation, die ein Mensch bekommen kann. «Gnade und Erwählung sind das Geheimnis und das Wesen der Geschichte», schreibt der Kulturphilosoph Ernst Troeltsch.12 Kein Geringerer als Max Weber hat schon vor 100 Jahren darauf hingewiesen, dass die puritanische Lebensweise Schmierfett für einen gedeihlichen Staat mit florierender Wirtschaft ist, ja, dass der Calvinismus mit seiner «innerweltlichen Askese» der


10 Vgl. A. Sierszyn, Mein Herz dem Herrn zum Opfer (2015), 31–42.
11 Zwingli schreibt in seiner «Vorsehung»: «Es gibt viele Erwachsene, von denen wir nicht wahrnehmen, dass sie verworfen sind, bis sie das durch schlechtes Handeln selbst verraten. Und umgekehrt gibt es viele, die, auch wenn sie eine Zeit lang verbrecherisch gelebt haben, doch wieder auf den rechten Weg zurückkehren und durch Busse und lauteres Leben zeigen, dass sie vom Herrn erwählt sind.» Vgl. E. Künzli, Huldrych Zwingli. Auswahl seiner Schriften (1962), 293.
12 E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme (1922), 101.

Die Kirche, die aus der Genfer Reformation hervorgeht, wird gemeinschaftlich geleitet und kennt weder Bischöfe noch Prälaten (flache Hierarchie): 1. Älteste (Presbyter, heute Kirchenpflege) 2. Hirten (Pastoren) 3. Lehrer (Docteurs) 4. Diakone Johannes Calvin 6 Reformation als individualisierende Glaubensbewegung, die eine Pluralisierung der Religionskultur ermöglicht

 eigentliche Motor für den Aufstieg des Westens und des Kapitalismus gewesen ist.13 In der Tat sind Leistung, Bildung und Wissen (Lesen!) im calvinistischen Protestantismus überaus positiv besetzt. So entsteht in protestantischen Gebieten schon früh ein geistiges Humankapital, das Seinesgleichen sucht. In Genf selbst begründen Calvinisten die Uhren- und Textilindustrie, später auch den Bankenplatz; ebenso pflegen sie wachsame Beziehungen zum Rohstoffhandel. Der Genfer Wirtschaftsprofessor Peter Tschopp bezeichnet den Genfer Bankenplatz als «Spätgeburt des Calvinismus».14 Der Zuger Schriftsteller Thomas Hürlimann erinnert sich: Noch in den 1950er Jahren war «bei der Landis & Gyr das gesamte obere Kader mit Protestanten besetzt. Die Arbeiter hingegen waren katholisch. Der Katholizismus hatte … gegen die protestantische Leistungsethik keine Chance».15

Der Westen und der Rest der Welt

Ums Jahr 1500 kann der monolithische Machtblock China als Nabel der Welt bezeichnet werden. Schon als Europa im Mittelalter noch dahindämmert, erfinden die Chinesen im 11. Jahrhundert die mechanische Uhr, es folgen die Druckerpresse, das Schiesspulver, das Papier, die Sämaschine, der Kompass, die Karette und selbst ein kleines Gerät wie die Zahnbürste. China besitzt im Mittelalter eine hochseetüchtige Kriegsflotte, deren Riesenschiffe im 15. Jahrhundert die Ostküste Afrikas anfahren. Um das Jahr 1500 denkt niemand an eine Weltherrschaft des kleinen Europa. Und doch steigt England im 17. Jahrhundert auf zur ersten Seemacht der Welt. Während China an seiner Selbstzufriedenheit und Unbeweglichkeit zerfällt, erlebt England eine (calvinistische) Revolution und wird 1689 zur weltweit ersten parlamentarischen Demokratie. Demokratie und Freiheit aber schaffen Raum für Eigentum, Forschung, Innovation und Wettbewerb. 2013 publizierte Niall Ferguson, weltberühmter Historiker von Harvard und Oxford, ein Buch mit dem Titel «Der Westen und der Rest der Welt».16 Auch Ferguson sieht in der calvinistischen Arbeitsethik den entscheidenden Nährboden und Motor für den unerwarteten demokratischen, industriellen und militärischen Aufstieg des Westens. Die Stärke des (calvinistischen) Protestantismus als Nährboden der Kultur hat den schnellen Aufstieg des kleinen Europa zum Vorort der Welt wesentlich mitermöglicht. Als England und der Kontinent im 20. Jahrhundert ihren Zenit hinter sich lassen, erreichen die protestantischen USA (u. a. dank immer neuer Erweckungen bis in die 1950er Jahre) ihre volle geistige Kraft. Erst ab den 1960er Jahren beginnt mit den Stössen säkularer Kulturrevolution hüben und drüben der kirchliche Abstieg, was die Statistiken deutlich zeigen. Diesem Abstieg folgt der kulturelle und politische Niedergang auf dem Fuss.

13 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/1920, 2015).
14 P. Tschopp, in: Zeitung «reformiert.» Vom 31.10.2008.
15 Th. Hürlimann, in: Der Tagesanzeiger vom 30.6.2011. 16 Niall Ferguson, Der Westen und der Rest der Welt. Die Geschichte vom Wettstreit der Kulturen (2.A.2014).

Max Weber hat schon vor 100 Jahren darauf hingewiesen, dass die puritanische Lebensweise Schmierfett für einen gedeihlichen Staat mit florierender Wirtschaft ist, ja, dass der Calvinismus mit seiner «innerweltlichen Askese» der eigentliche Motor für den Aufstieg des Westens und des Kapitalismus gewesen ist.


IV.                Schatten des Protestantismus

Dreierlei Schatten oder Defizite des Protestantismus sollen in aller Kürze dargelegt werden.

1. Spaltung
Mit der Reformation ist eine nachhaltige und bis heute nicht geheilte Spaltung, ja, eine Zerklüftung, in die abendländische Christenheit eingedrungen. Selbstverständlich gab es in der Christenheit längst vor der Reformation ungezählte Kirchenspaltungen. Bereits im 11. Jahrhundert trennen sich die morgenländische und die abendländische Kirche nicht im Frieden. Die Bewegungen der englischen Wycliffiten, der tschechischen Hussiten und der Waldenser konnten im Spätmittelalter nur durch staatliche Gewalt unterdrückt werden. Die Ketzerverfolgungen sind ein Jahrhunderte altes, düsteres Kapitel der Kirchengeschichte. Insofern ist die Reformation wieder positiv einzustufen, weil sie als individualisierende Glaubensbewegung eben auch eine Pluralisierung der Religionskultur ermöglichte, die der Pietismus im 18. Jahrhundert noch verstärkte. Hier liegen Ansätze (auch in Deutschland) zur späteren Toleranz und Glaubensfreiheit.

2. Religionskriege
Eine schwerwiegende Folge von Reformation und Gegenreformation sind die zahllosen europäischen Religionskriege, von denen der Dreissigjährige Krieg (1618–1648) mit seinem ganzen Jammer, mit Pestseuchen und sozialem Elend der schrecklichste ist. In ihrer grössten Not und Ausweglosigkeit stossen die Menschen in ihrer Verzweiflung auf die Gesundheit des Teufels an. Es sind nicht die Gottlosesten, sondern oft die Klugen und Wachsamen, die ob all den Schrecken, den die Glaubenskriege auslösten, an der Bibel und am Christentum irregeworden sind. Die Religionskriege sind die tiefste Quelle für die Entstehung des abendländischen Skeptizismus und Atheismus. Mit Händen greifen lässt sich diese Entwicklung in Frankreich, das am Ende des 18. Jahrhunderts geistlich ausgeblutet ist. Auch hier kann die Schuld nicht primär der Reformation zugewiesen werden; es sind in erster Linie die Verhärtungen des konfessionellen Zeitalters, die hüben und drü- ben zu schwersten Verwerfungen geführt haben.

3. Bibelkritik
Der dritte Schatten hängt mit dem zweiten zusammen und betrifft den Neuprotestantismus ungleich stärker als die Katholische Kirche. Der neuzeitliche Mensch in Europa verfällt dem Skeptizismus. Statt an Gott glauben die Europäer mehr und mehr lieber an sich selbst. Aus dem individualisierten Glauben bei Luther entwickelt sich ein schrankenloser säkularer Individualismus, sprich Egoismus.

7 Der neuzeitliche Mensch in Europa verfällt dem Skeptizismus. Statt an Gott glauben die Europäer mehr und mehr lieber an sich selbst. Aus dem individualisierten Glauben bei Luther entwickelt sich ein schrankenloser säkularer Individualismus, sprich Egoismus.

 Statt dem Evangelium Vertrauen zu schenken, erwächst als neuprotestantisches Gewächs eine am naturwissenschaftlichen Methoden-Ideal orientierte Bibelkritik. Der europäische (protestantische) Mensch erhebt sich über alles und lebt mehr oder weniger, als ob es Gott nicht gäbe. Mit dem Verlust des Gotteswortes sterben die europäischen Kirchen. Der Neuprotestantismus verliert seine Salzkraft für die Gesellschaft, weil er nur noch nachzusprechen vermag, was trendige Medien ohnehin schon vermelden. So wird das 500-Jahr-Jubiläum zur verordneten Feier einer verhaltenen Verlegenheit. Weniger verlegen sind Stimmen, die 2011 nach einem ausgelassenen Pride-Festival vermelden, dass durch diesen Grossanlass Zürich wieder etwas weniger zwinglianisch geworden sei.17 Vor allem seit den 1960-er Jahren – in Deutschland schon früher – beginnt die innere Kraft des Westens (zunächst kaum spürbar) zu sinken. Der Protestantismus ist daran, seine eigenen Erfolge zu zerstören. Sterben heute in Europa die Kirchen, so wird morgen der ganze Kontinent in den Untergang hineingezogen. Denn Europa ist durch das Wort der Bibel geworden, es könnte den Verlust dieser Botschaft auf die Dauer nicht überleben. Papst Johannes Paul II. hat schon 1990 zu einer Neu-Evangelisierung Europas aufgerufen. Hatte er nicht Recht? Der Neuprotestantismus schüttelte darüber verständnislos den Kopf. Seither hat der Zeitgeist unsere Jugend weiter nach seinem Bilde geformt, unsere Medien geleitet, zwischen Männern und Frauen einen Klassenkampf entfesselt, Millionen von Kindern die Geburt verweigert, Kindern ihre Mütter und Väter entzogen und Heranwachsenden die Findung ihrer Identität erschwert. Europa – einst der Vorort der Welt – ist zum Spielball der Mächte geworden. Der Kontinent wirkt alt und müde. Europa hat seine Sendung verraten, weil es (durch den Neuprotestantismus) selbst verraten wurde. Statt der Stimme des guten Hirten zu vertrauen, folgte es abgehobenen, irrealen Ideologien und Kulturidealen (Idealismus, Sozialismen, Feminismus, Multikulturalismus und Genderismus). Die protestantischen Eliten sind dabei besonders selbstbewusst vorangegangen.18 Das ist ein tiefer Schatten des Protestantismus – und eine Schuld gegenüber Gottes Wort und dem ganzen Kontinent.19


17 «Dank euch ist Zürich weniger zwinglianisch», in: NZZ vom 18.6.2011. Im Unterschied zur Kirche weiss man, dass ein Kulturkampf im Gange ist.

Schlussgedanken
Durch die Reformation hat Gott besonders die Völker des europäischen Nordens und des Westens, allen voran Deutschland und die Schweiz, gerufen und gesegnet. Weshalb der Reformation im 16. Jahrhundert kein völliger Durchbruch und Aufbruch in Kirche, Kultur und Politik beschieden war, bleibt Gottes Geheimnis. Wenn wir als evangelische Kirchen, welcher Couleur auch immer, feierlich der Reformation gedenken, so tun wir dies mit grossem Dank und mit Freude. Denn die Reformation hat uns Menschen das helle Licht des Wortes Gottes, die Freude der Heilsgewissheit und den letzten Trost wieder frei zugänglich gemacht. Auch die im Westen erkämpfte Demokratie, die Wissenschaften und die Industrialisierung (Wohlstand) sind ohne die Grundlage vor allem der calvinistischen Reformation undenkbar.

18 1950 stellt Gerhard Ebeling fest: «Es ist der erstaunlichste Vorgang der Theologiegeschichte der Neuzeit, dass es vor allem die Theologen selbst waren, die unerschrocken und unerbittlich die historisch-kritische Methode handhabten … Selbstverständliche Allgemeingültigkeit besitzt jetzt nur noch, was der Mensch als solcher mit seinen rationalen und empirischen Fähigkeiten erkennen, einsehen, begründen und kontrollieren kann». Vgl. G. Ebeling, Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Kirche und Theologie, in: ZThK (1950), 32f.
19 Vgl. A. Sierszyn, Der europäische Säkularismus, die Sprachlosigkeit der Kirchen und die Gefährdung des Kontinents. Kleine Schriften 8 (2.A.2016).

Der Übermut des Neuprotestantismus hat nicht nur unseren Kontinent und die ganze Welt mit bis an den Abgrund geführt; er hat durch seine vermeintlich wissenschaftliche Kritik an der Bibel die Kirche ihres Lichtes beraubt, das sie braucht, um zu überleben und für die Welt ein Segen zu sein.

Wir feiern das 500-Jahr-Jubiläum aber auch im Zeichen der Busse über Glaubensstreit und todbringende Rechthaberei auf beiden Seiten der Konfessionsgrenzen. Gewiss können wir unterschiedliche Glaubensweisen und Traditionen nicht unüberlegt mit schneller Hand als belanglos beiseiteschieben. Wir wollen als Christen aber auch nicht erst dann über die Konfessionsgrenzen hinaus herzliche Gemeinschaft pflegen und zusammen beten, wenn Feinde des Glaubens uns womöglich in den Kerker werfen und wir im Angesicht des Todes bei Wasser und Brot miteinander die Zelle teilen.

Schliesslich hat der Übermut des Neuprotestantismus nicht nur unseren Kontinent und die ganze Welt mit bis an den Abgrund geführt; er hat durch seine vermeintlich wissenschaftliche Kritik an der Bibel die Kirche ihres Lichtes beraubt, das sie braucht, um zu überleben und für die Welt ein Segen zu sein. Die Bibelkritik ist es auch, die den westlichen Kirchen allzu oft die Möglichkeit entzieht, in ethischen Grundfragen gemeinsam mit einer christlichen Stimme zu sprechen, um den Kulturen in den europäischen Gesellschaften die Suppe zu salzen.

500 Jahre Reformation sind ein Anstoss, im Raum der Kirche und darüber hinaus die ausgetretenen Wege des Zeitgeistes und des Niedergangs zu verlassen. Jesus Christus sagt seiner Kirche zu: «Ihr seid das Licht der Welt, lasst euer Licht leuchten!» Können wir noch aufwachen? Können wir noch ohne falsche Scham zum Evangelium stehen und seine starke Botschaft einem müde gewordenen Kontinent gegenüber neu und froh bezeugen? Die europäischen Kirchen präsentieren sich heute auf weite Strecken als völlig angepasst und eingeengt unter der Glocke der politischen Korrektheit. Darum sehen wir diese Kirchen auf so schmerzliche Weise zerfallen zu geistlichen Ruinen und bedeutungslosen Grabmälern Gottes. Deshalb braucht Europa eine neue Reformation! Denn «Gottes Wort ist nicht gebunden» (2. Tim 2,9). Das Evangelium ist eine Kraft Gottes, die verändert – gestern und heute. Beten wir dafür? Wollen wir das überhaupt? Der säkulare französische Schriftsteller Houellebecq spricht von der Notwendigkeit, uns auf dem alten Kontinent wieder «in Gekreuzigte zu verwandeln», denn einzig «eine spirituelle Macht wie das Christentum oder das Judentum wäre imstande, der spiritueller Macht des Islam zu widerstehen.»20 Es ist ein denkwürdiger, aber nicht unbiblischer Vorgang, dass der lebendige Gott einen bekennenden Heiden dazu beruft, seine treulose Kirche an ihre eigentliche Aufgabe zu erinnern. Viele europäische Christenmenschen verstehen vielleicht nicht einmal, was uns dieser wache Zeitgenosse anmahnt, weil ihnen zeitlebens einseitig und irreal nur die Süsse des Evangeliums gepredigt wurde. Als «Gekreuzigter leben» ist für das Neue Testament indes eine Selbstverständlichkeit (Mt 16,24; 2. Kor 4,7-12). Die Biografien von Paulus oder von Johannes Calvin zeigen die Vollmacht dieser in Europa vergessenen Christus-Nachfolge. Sind wir dazu bereit? Ich fürchte, nein. Unser serbelnder Kirchen-, Polit und Kulturbetrieb ist uns trotz seinem offenkundigen Versagen noch immer zu lieb. Vielleicht sind wir noch zu sehr verbandelt mit dem Schein von Geld, Macht, Gier und Haschen nach Wind. Von den alttestamentlichen Propheten lernen wir: In solch grosser Not und Gefährdung Europas kann die Hilfe nur von oben kommen. Dafür sollen «die siebentausend» inständig beten, «die ihre Knie nicht gebeugt haben vor Baal und jeder Mund, der ihn nicht geküsst hat» (1. Kön 19,18). Die Irrwege und Busstage des alttestamentlichen Gottesvolkes lehren uns: Gott kann sich unser und unserer Not erbarmen; er kann die «Höhenwinde» drehen lassen (siehe z. B. die Wende durch Israels Buss- und Bettag in 1. Sam 7). Er kann sich eine neue Generation und eine neue Kirche berufen, die seinen prophetischen Ruf hört und seiner Stimme zu gehorchen vermag. Gottes Wort nämlich ist die einzige Grösse, die nicht der Determination und der berechenbaren Wahrscheinlichkeit unterliegt. Das ist unsere Hoffnung. Ist die Kirche diesem Wort gehorsam, so bleibt sie frei – als einzige Grösse dieser Welt. Deshalb wird nur eine Kirche und Generation, die ganz neu nach Gottes Wort und Geist fragt und danach lebt, die Kraft haben, das müde Europa zu erleuchten und wieder munter zu machen. Darum und um nichts weniger geht es, wenn wir als Kirche der Reformation gedenken. So gehen wir mit unserer kleinen Kraft neu ans Werk – aus unterschiedlichen Kirchen und Freikirchen. Mitten auf einem gottvergessenen Kontinent in Schieflage stehen wir Hand in Hand auf dem festen Grund, den er selbst gelegt hat (1. Kor 3,11) und der Europa bis heute trägt. Und wir bekennen Gottes Heil und Gnade, die im Evangelium aller Welt kundgetan wird.


20 G. Besier, in: Katholische Nachrichten, 30.9.2016; NZZ Feuilleton, 27.9.2016."

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