Ich habe mit dem Lesen dieses Buches begonnen und bin tief beeindruckt.
„justitia distributiva“ = so fasste Luther zuerst Gottes
Gerechtigkeit auf: fordernd, strafend, verurteilende Instanz. (S. 16)
Die Leistungsgerechtigkeit = «justitia activa» trieb Luther
in die Verzweiflung und teilweise in einen Gottes Hass.
S. 23: hier ist Luther gar nicht so weit weg, wie der
Philosoph Friedrich Nietzsche, der « Die Moral, das Gottesgebot, das Gewissen,
vor allem aber Gott selbst, muss weg. Gepriesen sei der Antichrist, der uns das
neue ‘moralinfreie’ Leben ermöglicht, das Leben in Freiheit, das Leben
‘jenseits von gut und böse’.
Martin Luther hätte diesem Philosophen geantwortet: Das, was
du suchst, das, was du unter Abschaffung Gottes erstrebst, eben das hat Gott
uns in Jesus Christus geschenkt! Er hat uns einen Platz, einen festen Standort
geschenkt, der nicht begründet ist durch unsere guten Werke und der nicht
unterwühlt und gesprengt wird durch all unsere Bosheiten. Die Gnade gibt uns
eine Position jenseits, oberhalb all unserer Taten, jenseits und oberhalb der
Forderung und des vernichtenden Urteils des Gesetzes. Jesus Christus
nimmt uns in Gnaden an, das ist in der Tat ‘eine transmoralische
Rechtfertigung des Menschen’ (Rohrmoser). Nicht wegen unserer Werke werden
wir gerechtfertigt.»
Denn die «justitia
passiva» ist ganz anders!
«Er ist uns gemacht zur Gerechtigkeit» (1 Kor 1,30).
Darum ist Jesus (laut Luther): «der grösste Räuber, Mörder,
Ehebrecher, Dieb, Tempelschänder, Lästerer …, der durch keinen Verbrecher in
der Welt je übertroffen wird» (S. 16 und 17).
So radikal habe ich noch nie die Begründung für die
Gnade Gottes gehört.
«Die ganze Gewalt liegt darin, dass einer die Pronomina gut
auf sich bezieht.» sagt Luther (S. 17): «Für dich!»
«Alle ist verloren, wenn wir an dieser Stelle ‘Christum von
den Sünden und den Sündern scheiden’ (S. 159), in etwa als Vorbild anpreisen,
das wir nachbilden sollen. Das stürzt uns nur wieder in den tödlichen Strudel
der Werkerei. Hier haben wir uns dem zu beugen, dürfen uns dem
überlassen, sollen das jubelnd anbeten, was Gott tat: Unsere Sünde hat er mit
dem reinen Jesus Christus zusammengebunden und gerade so uns von unser Sünde
für ewig getrennt.»
Luther:
«’Was immer ich und du und alle an Sünden begangenen
haben und in Zukunft noch begehen werden, gehört so eigentlich zu Christus, als
wenn er selbst diese Sünden begangen hätte. Alles in allem, es muss unserer
Sünde Christi eigene Sünde werden, oder wir sind in Ewigkeit verloren …
Das ist unser höchster Trost, Christus … so einhülle zu dürfen in meine, deine
und der ganzen Welt Sünden, dass wir ihn sehen dürfen als den, der unser aller
Sünde trägt’. (S. 169). «Gott hat unsere Sünde nicht auf uns, sondern auf
Christus, seinen Sohn, gelegt’ (S. 169).»
Kettling spricht davon, dass in der Christologie nicht
so von Jesus gesprochen werden darf: Das wäre Gotteslästerung. Aber in der
Rechtfertigungslehre ist es heilsnotwendig:
Luther: «Du sollst Petrus sein, jener Verleugner, du sollst
Paulus sein, jener Verfolger, Lästerer und Gewaltmensch, du sollst David sein,
jener Ehebrecher, du sollst jener Sünder sein, der die Frucht im Paradies ass,
jener Räber am Kreuz, in Summa: du sollst aller Menschen Person sein und sollst
aller Menschen Sünde getan haben’ (169 f.).
Du sollst Petrus sein, du sollst Siegfried Kettling sein –
das ist das rettende Wort. Dass wir ja hier Jesus nicht für sich nehmen. Jesus
ist nicht irgendeine Privatperson, …» (Seite 19)
Christus
ist Kettler, André, … Wir sind in Christus.
Das sei auch damit gemeint, dass wir nicht mehr leben,
sondern Christus lebt in uns.
Wieder Luther:
«Wenn du … in der Sache der Rechtfertigung die Person
Christi und deine Person unterscheidest, bist du im Gesetz, bleibst drin und
lebst in dir; und das heisst tot sein bei Gott und von dem Gesetz verdammt
werden’ (S. 111).»
Das bedeutet «in Christus» sein. Ich war mir bisher über
diese tiefe dieser Worte nicht bewusst. Die entsprechende Stelle im Römerbrief
habe ich nie wirklich verstanden. Und ich glaube, Du hast auch «etwas von eins
werden und nicht mehr ich lebe ich» gesprochen. Ich habe das damals noch nicht
verstanden, da es mich etwas an die östliche Mystik erinnerte, als ob die
Persönlichkeit sich auflöse. Hier geht es aber darum, dass ich für die Sünde
und für das Gesetz tot bin!!!! Jemand fragte hier schon, dann könnte ich
verloren gehen, wenn ich beim Sterben nicht mit Christus eins bin. Es war
schwer zu antworten. Aus diesem Grunde stand in meinem alten Kirchengesangbuch
Gebete, die man mit einem Sterbenden beten könnte. «Willst Du auf das Vertrauen
in Christus hin Deine Seele Jesus Christus anvertrauen?» Vermutlich ist es
wieder das Leistungsdenken (oder gesundes Erkennen der Gefahr ohne Jesus leben
zu können?): Dabei geht es eben nicht um eine Leistungsgerechtigkeit, sondern
um eine Beziehungsgerechtigkeit. Es liegt alles am Verständnis der Begriffe:
Gerechtigkeit, Glaube, Liebe, Hoffnung, und ich vermute
sogar «Leistung», d.h. die guten Werke, kann man als Leistungsbegriffe oder –
wie es biblisch wäre – als Gnadenbegriffe, als Beziehungsbegriffe verstehen. So
ist der biblische Glaube kein Fortstellungskraft-Glaube, sondern ein
Beziehungsglaube! Auch die Gerechtigkeit ist eine Beziehungsgerechtigkeit, d.h.
Gott ist gerecht = Gott ist treu + Gott ist barmherzig. Gott hält, was er
verspricht. Und das bedeutet, wenn ich Gerecht leben will, lebe ich treu und
barmherzig! Ich lebe Beziehung!
Dazu Kettling:
«Erstaunlich genug: Ich darf Christus und mich nicht
unterscheiden; kann ich mich denn mit ihm identifizieren? Bin ich etwa Jesus?
Ich sage es zunächst theologisch: Was in der Christologie
verboten ist, eine Lästerung, genau das isst in der Rechtfertigungslehre
geboten, ist heilsnotwendig. Was meint das?
In der Christologie (der Lehre von der Person Jesu) betone
ich zunächst den unendlichen Abstand zwischen Ihm und mir, zwischen dem
‘eingeborenen Sohn Gottes’ und mir, zwischen dem ‘eingeborenen Sohn Gottes’ und
mir, dem Adamskind. Da werde ich gegen jede ‘Jesulogie’ kämpfen, d.h. gegen
jeden Versuch, Jesus von unten, von unserem menschlichen Niveau her zu
definieren – etwa als den Gipfel der Menschheit, als das höchste Exemplar, das
unsere Gattung ‘homo sapiens’ hervorbrachte. Dabei ist es belanglos, ob man von
dem Religionsstifter, dem Genie der Liebe, dem Sozialreformer, dem Lehrer der
Humanität oder anderem schwärmt. Nein, Jesus ist nicht der Mount …» (S. 19 +
20)
«Aber nun ist dieser Herr Knecht geworden, das ewige Wort
ward Fleisch. Nun hat dieser Eine mein Fleisch und Blut, meine Sünde und meinen
Tod, ja meine Person selbst angenommen. Und nun muss ich, was meine
Rettung ,was die Rechtfertigung betrifft, weil Gott es so will, anders reden.
Zugespitzt: Was in der Christologie nichts als Lästerung wäre, das ist hier
mein einziger Halt und meine ganze Seligkeit. Weil Christus sich mit mir
identifizierte (‘Du sollst Petrus ein, du sollst Siegfried Kettling sein …’),
darum wage ich es, in Gottes Namen zu sagen: ‘Ich bin Christus’»:»
Das finde ich nun etwas gewagt. Luther sagte es so:
«Durch den Glauben wirst ‘du so mit Christus
zusammengeschweisst …, dass aus dir und ihm gleichsam eine Person wird, die man
von ihm nicht losreissen kann, sondern die beständig ihm anhangt und spricht:
Ich bin Christus; und Christus wiederum spricht: Ich bin jener Sünder, der an
mir hängt und an dem ich hänge …
Denn wir sind durch den Glauben zu einem Fleisch und Bein
verbunden … So dass dieser Glaube Christus und mich enger verbindet als Gatte
und Gattin verbunden sind’ (S. 111).» (S. 20 + 21)
«Wer dem Herrn anhangt, der ist ein Geist mit ihm.» (1. Kor.
6,17)
Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in
mir.» (Gal 2,20)
Luther nennt das den fröhlichen Tausch:
«’Der einzige Weg, dem Fluch zu entgehen, ist zu glauben und
im gewissen Vertrauen zu sagen: Du Christe, bist meine Sünde und mein Fluch, ja
vielmehr: ich bin diene Sünde, dein Fluch, dein Tod, dein Zorn Gottes, deine
Hölle; du dagegen bist meine Gerechtigkeit, Segen, Leben, Gnade Gottes, mein
Himmel»’ (S. 174).
Das darf ich Sünde, Tod und Teufel, der anklagenden Stimme
des Gesetzes und dem schlagenden Gewissen entgegenrufen: ‘Christus ist hier!’».
(S. 21)
«Halten wir fest: ‘Wenn du in der Sache der Rechtfertigung
die Person Christi und diene Person unterscheidest, bist du vom Gesetz
verdammt.’ Darum will ich sprechen:
‘Wenn ich an Christus glaube, stehe ich mit ihm auf und
sterbe meinem Grab, das ist dem Gesetz, das mich gefangen hielt: … ich bin
meinem Kerker entronnen und meinem Grab, nämlich dem Gesetz. So hat es kein
Recht mehr, mich anzuklagen und zurückzuhalten, weil ich auferstanden bin’ (S.
105).» (S. 21 + 22)
Transplantation:
«Luther aber sagt: Die Tatsache, dass Christus in mir wohnt,
macht, ‘dass und ich aus meiner Haut herauskomme und in Christus und in sein
Reich versetzt werde …’ (S. 110).» (S. 22)
«Das ist der Grund, warum unsere Theologie Gewissheit hat: Sie
reisst uns von uns selber weg und stellt uns ausserhalb unser (extra nos),
so dass wir uns nicht auf unsere Kräfte, Gewissen Sinn, Person, auf unsere
Werke stützen, sondern auf das, was ausserhalb unser ist, nämlich auf die
Verheissung und Wahrheit Gottes, der nicht täuschen kann’ (S. 228).» (S. 22 +
23)
Nur das hilft: Weil:
«In der Person-Sünde wurzeln alle Tat-Sünden. Weil der Baum
kernfaul ist, darum stinken die Früchte. Ich habe nicht Sünden, ich bin Sünder,
Rebell gegen Gott, bis in die Urgründe meiner Motive, Gedanken und Sehnsüchte.
Ich bin’s! Es ist höchst oberflächlich von Sündenpaketen, Sündenschulden,
Sündenfesseln, Sündenflecken zu reden. Es geht um mich, die Sünder-Person! Wer
jetzt die Sünde entfernen will, der muss den Sünder selbst aufheben. Wer
mir meine Sünde abnehmen will, der muss mir schon mich selbst abnehmen. Der müsste
an meinen Platz treten, so dass er ich und ich er würde!» (S. 18)
«’Eingekrümmt-Sein in sich selbst’, Festhängen im
Geschaffenen’, ‘Mittelpunktshaltung’, ‘Weltverfallenheit’, Gotteslästerung, -
mit all dem haben wir versucht das Wort ‘der Gottlose’ (das eine Leitwort
unseres Themas! Zu umschrieben.» (S. 14) Gottlose = aktive Feind
Gottes (S. 15)
Christus = unsere Gerechtigkeit (=
Beziehungsgerechtigkeit)
«’Die wahre christliche Theologie fängt … an … mit Christus’
(S.37).
Denn Gottes Gerechtigkeit ist nicht etwas, eine Eigenschaft,
ein Vorgang, eine Tag; sie ist Jesus Christus selbst.
«Er ist uns gemacht zur Gerechtigkeit’ (1. Kor. 1,30).
‘Der im Glauben ergriffene und im Herzen wohnende Christus
ist die christliche Gerechtigkeit, derentwillen Gott uns als gerecht betrachtet
und das ewige Leben schenkt’ (s. 90).
Die hat Luther in seinem Galaterkommentar (1531) gewaltig
bezeugt.»
Nun sind wir «oberhalb des Gesetzes». Transmoralische
Rechtfertigung führt dazu, dass die Sünde nicht mehr in der Welt ist (S. 25).
Revolutionärer Gedanke. Wo ist sie dann?
Luther:
«Daher sind die Sünden in Wirklichkeit nicht dort, wo sie
gesehen und gefühlt werden. Nach der Theologie des Paulus ist ferner keine
Sünde, kein Tod, kein Fluch mehr in der Welt, sie sind in Christus, der als
Lamm Gottes der Welt Sünde trägt, der zum Fluch gemacht ist, dass er uns vom
Fluch befreite. Aber nach der Philosophie und der Vernunft sind Sünde, Tod etc.
nirgends anders als in der Welt, im Fleisch, in den Sündern … Die wahre
Theologie aber lehrt, dass ferne keine Sünde mehr in der Welt sei, weil der
Vater alle Sünde auf Christus geworfen hat’ (S. 17).» (S. 25)
Luther:
«Wo also der Glaube an Christus ist, da ist die Sünde in
Wahrheit abgetan, tot und begraben, wo dieser Glaube nicht ist, bleibt die
Sünde (s. 172). Sofern also Christus durch seine Gnade in den Herzen der
Gläubigen regiert, ist da keine Sünde, kein Tod, kein Fluch. Wo aber Christus
nicht erkannt wird, bleiben diese furchtbaren Mächte’ (S. 170).»
Wie alles nach dem Sündenfall kann auch dies pervertiert
werden: Bonhoeffer sagte dem: billige Gnade. (S. 27)
Diese Gnadenideologie, die billige Gnade, rechtfertigt die
Sünde anstelle des Sünders (sagte Bonhoeffer). Auch Paulus warnt vor dieser
Perversion: Römer 6 im Kontext von 5,20 f.
Ich glaube, nun diese Bibelstelle wirklich verstanden zu
haben. Genial.
U.a. steht dort: "Wie nun? Sollen wir sündigen, weil wir
nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade sind? Das sei ferne!
Wisst ihr nicht: wem ihr euch zu Knechten macht, um ihm zu
gehorchen, dessen Knechte seid ihr und müsst ihm gehorsam sein, es sei der
Sünde zum Tode oder dem Gehorsam zur Gerechtigkeit? Gott sei aber gedankt, dass
ihr Knechte der Sünde gewesen seid, aber nun von Herzen gehorsam geworden der
Gestalt der Lehre, der ihr ergeben seid. Denn indem ihr nun frei geworden seid
von der Sünde, seid ihr Knechte geworden der Gerechtigkeit." Römer 6,15 ff).
«Oder wisst ihr nicht, dass alle, die wir auf Christus Jesus
getauft sind, die sind in seinen Tod getauft?
So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod,
damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des
Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln.»
Denn wenn wir mit ihm verbunden und ihm gleichgeworden sind
in seinem Tod, so werden wir ihm auch in der Auferstehung gleich sein.
Wir wissen ja, dass unser alter Mensch mit ihm gekreuzigt
ist, damit der Leib der Sünde vernichtet werde, so dass wir hinfort der Sünde
nicht dienen
Denn wer gestorben ist, der ist frei geworden von der Sünde.
Sind wir aber mit Christus gestorben, so glauben wir, dass
wir auch mit ihm leben werden, und wissen, dass Christus von den Toten erweckt
, hinfort nicht stirbt; der Tod kann hinfort über ihn nicht herrschen.
Denn was er gestorben ist, das ist er der Sünde gestorben
ein für allemal; was er aber lebt, das lebt er Gott.
So auch ihr, haltet dafür, dass ihr der Sünde gestorben
seid und lebt Gott in Christus Jesus.
So lasst nun die Sünde nicht herrschen in eurem sterblichen
Leibe, und leistet seinen Begierden keinen Gehorsam.»
(Römer 6,3 ff.)
Das Problem besteht auf zwei Arten:
- Sind wir wirklich
wiedergeboren? Oder haben wir nur verstandesmässig das Evangelium
verstanden und pervertieren nun mit unsere Vernunft die Gnade zur billigen
Gnade?
- Sind wir von Gott
wiedergeboren, aber haben noch nicht erkannt, dass wir uns der Sünde
versklaven können, wenn wir uns ihr ergeben?
Vor dem allem gilt: Was
ist meine Motivation? Leistungsdenken (= fleischlich) oder
Gnadengerechtigkeit (= geistlich). Beim ersteren kann es gar nicht anders
sein, als dass er alles als Leistungsdenken ableitet. Sein «Christsein»
ist ein reiner «Chnorz». Bei den Zweiten ist es mangelnde Erkenntnis. Er
wird von Satan und seinen Anfechtungen herausgefordert und weiss
nicht sein Schild des Glaubens zu nutzen. Geistlich kämpfe ich nicht mit
«fleischlichen» Waffen, d.h. mit meinem menschlichen Möglichkeiten,
sondern ich gehe zu Christus. Denn Christus hat schon lange den Kampf
gewonnen. Somit besteht der «geistliche» Kampf, indem ich mich «sportlich»
täglich trainiere in Christus zu sein. Mein alter Mensch will aber lieber
selber, aus eigener Kraft, aus eigener «Werthaltigkeit» usw. Christ sein.
Aber in dem ich täglich Busse tue, d.h. zu Jesus gehe, werde ich
barmherziger und gnädiger.
Luther wandte sich gegen die «Antinomer», die das Gesetz
ablehnten. (Was mich erstaunt. Aber natürlich völlig korrekt ist. S. 28 ff).
Kettling schreibt dazu (S. 29):
«Wer den lebendigen Jesus Christus hat, der wird in die
Heiligung geführt – oder er hat eben Christus nicht!
So gewiss die Rechtfertigung zunächst Gerechterklärung ist,
ein Rechtsakt, ein Freispruch, der mir, dem Sünder, eine neue Geltung vor Gott
schenkt, so ist sie zugleich der schöpferische Beginn einer Gerechtmachung, die
mir ein neues Sein gibt.»
Auch Kettlin gibt hier S. 29 zu: Das Neuwerden ist
bruchstückhaft auf dieser Erde.
Luther:
«Wir haben immer den Rückgang (‘regressus’) zu diesem
Artikel frei, dass unsere Sünden bedeckt sind und dass Gott sie uns nicht
anrechnen will’ (S. 92).» (S. 30)
Kettling: «Von diesem stets neuen, von diesem bis in die
Sterbestunde hinein immer wiederholten ‘Regressus’, von dieser Zuflucht zu dem
ganz und gar vollendeten, dem ewig perfekten Gnadenwerk Christi leben wir.
Heiligung kann darum immer nur von der Rechtfergigung Leben: Vom Berge steigen
wir ins Tal, aus dem Tal aber fliehen wir immer wieder zu jener Gnadenfeste,
die steil emporragt, ‘jenseits von gut und böse’.» (s. 30)
PS: Kleiner Nebengedanke: Wie kann hier vertreten werden,
dass Jesu für die ganze Welt gestorben ist und wir daher nur noch ja
sagen müssen, wenn der Fünfpunkte Calvinismus vertritt, dass Jesus nur für die
Erwählten ganz persönlich gestorben ist? 1. steht es so in der Bibel und
auch für Calvin war die Bibel wichtiger als unsere menschlichen Formulierungen.
Daher hat Calvin auch gewisse trinitarische Bekenntnisse nicht unterschrieben,
was damals gefährlich war und missverstanden wurde: Ist Calvin ein
Antitrinitarier? Von Calvin lernte ich, dass es zwar richtig ist, dass
Antitrinitarier das Evangelium und seine Kraft durch Leistungsdenken ersetzen
und daher ein anderes Evangelium verkündigen. ABER der Begriff Trinität kommt
in der Bibel nicht vor. Also darf man auch mit anderen Worten an die Trinität
glauben. Nach meiner Meinung ist das zwar für die Kommunikation nicht gerade
optimal, aber wenn die Bibel Gottes Wort ist, dann ist sie auch der Massstab
aller Massstäbe.
Zudem soll der Calvinismus mit der Zeit– auch im Streit mit
anderen Denkschulen – Denkmethoden von Aristoteles übernommen haben. Calvin war
dagegen noch misstrauisch. Ich denke, unser Verstand kann eben nicht alles
fassen, was aber Aristoteles glaubte zu können. Die biblische
Prädestinationslehre haben wir aber nicht unter Kontrolle und können sie nicht
wirklich ganz mit dem Verstand verstehen. Das finde ich gerade beim Thema der
biblischen Prädestination so faszinierend. Es treibt mich zur Anbetung Gottes!
Und auch hier beim Thema Gerechtigkeit spielt es hinein:
Letztendlich gibt es Dinge, die wir mit unserem Verstand
nicht erfassen können, bzw. nur bruchstückhaft erklären können. Es gibt, wie
ich es J. I. Packer sagte hier eine Antinomie! Sich gegensätzlich
widersprechende Aussagen/Gesetze. Gottes Allmacht und unsere Verantwortung.
Packer beschreibt dies in seinem Büchlein: Prädestination und Verantwortung,
Gott und Mensch in der Verkündigung.
Und diese Spannung muss man aufrecht erhalten. In der Bibel
erklärt sich diese Spannung. Hier lernen wir, wie wir sie anwenden müssen. Denn
nicht wir haben Gott oder sein Wort, die Bibel unter Kontrolle, sondern Gott
uns sein Wort haben uns in der Hand. Daher ist es vernünftig, dass unser
Verstand dies nur bruchstückhaft versteht. Vielleicht ist es so ähnlich,
wie zwischen der Spannung zwischen Mann und Frau: Beides sind Menschen und
trotzdem scheinen sie manchmal von einem anderen Stern zu kommen. Aber auch
hier dürfen wir die Spannung aufrechterhalten. Vermutlich ist es wie beim
Strom: Er ist es sehr wichtig, dass man die Spannung aufrecht erhält oder aber
der Strom kann seinen Zweck nicht mehr erfüllen.
Daher geht wohl beim Fünfpunkte Calvinismus der dritte Punkt
zu weit: Jesus sei nur für die Erwählten gestorben. Allerdings, ist es im
Endeffekt natürlich genauso. Nur, wer erwählt ist, wird beim Hören des
Evangeliums vom Heiligen Geist wiedergeboren, d.h. befreit von der Sklaverei
der Sünde und will sich bekehren. Das glaubte Luther ja auch (im Gegensatz zu
vielen heutigen Lutheranern). Und dennoch konnte Luther davon reden, dass Jesus
für die ganze Welt gestorben ist! Auf der anderen Seite haben die Fünfpunkte
Calvinisten auch recht: Es ist eine persönliche Rechtsprechung. Jesus hatte an
mich gedacht. Er übernahm wirklich meine Sünden und hat mich vor Grundlegung
der Welt erwählt und geliebt! Wenn Luther lehrt, Jesus ist für die ganze Welt
gestorben, so versteht auch er es nicht als Allversöhnung: Man muss dazu ein Ja
haben, sonst gilt es nicht. Das klingt nun sehr arminianisch. Aber es wird nur
zum Arminianismus, wenn man die Gesamtaussage der Bibel aus dem Auge verliert.
Das gleiche geschieht, wenn man nur unsere Verantwortung betont und Gottes
Allmacht vergisst. (Und es gehört ja auch zu unserer Verantwortung, dass wir zu
Jesus gehen. Aber wir können es nicht, solange wir unter die Sünde verkauft
sind und uns Gott nicht wiedergeboren hat. Verantwortung und Möglichkeit klafft
hier auseinander = typische Opfersituation. Nur dass wir wirklich unsere Sünden
ausleben wollen und daher nicht einfach nur Opfer sondern auch Täter sind.)
Wir müssen sicherlich auch unterscheiden zwischen dem was Gott offenbarte und was wir erleben. Ich bekehre mich (= subjektiv). Gott offenbart in der Bibel, dass davor Gott mir eine geistliche Wiedergeburt geschenkt hat. (= objektiv). Letzteres kann ich nicht wissen, ohne dass mir das Gott in der Bibel offenbart hätte.
Und vermutlich liegt auch hier die Motivation in unserem
Herzen zu Grunde: Will ich eine Beziehung mit Christus oder bin ich
(noch) nicht vom Heiligen Geist wiedergeboren und will selber Gott sein?
Daraus leite ich ab: Ich darf meinen Verstand wie ein
Werkzeug gebrauchen. ABER er darf sich nicht verselbständigen. In Sachen Gott,
unser Heil usw. bin ich auf die Offenbarung Gottes angewiesen und da muss ich
mich an sein Wort und nicht an meine Logik halten. Der Begriff Beziehung hilft
dabei meinem Verstand, eher in Richtung biblisches Denken zu denken: Damit ich
die Begriffe Gnade, Liebe, Gerechtigkeit, Hoffnung, Treue nicht als
Leistungsbegriffe verstehe, sondern als Gnadenbegriffe. Und wenn ich in den
Gnadenbegriffe denke, so vermute ich, wird sogar die Leistung, d.h .die Werke,
zu einem Gnadenbegriff! Und das ehrt Gott und tut uns allen gut.