Freitag, 17. Mai 2013

Der verschwenderische Gott




Dies ist wieder ein Buch von Timothy Keller, das tief beeindruckt. Hier geht er eigentlich nur auf das Gleichnis des verlorenen Sohnes ein. Wie er es aber macht, ist genial. Es ist für Keller selber die Schlüsselerkenntnis für seinen christlichen Glauben. Während die üblichen Ausleger sich auf den verlorenen Sohn konzentrieren, stellt Keller fest, dass der zurückbleibende ebenfalls ein verlorener Sohn ist. Die eigentliche Dramatik dieses Gleichnisses ist, dass dieser "brave" Sohn, der dem Vater immer gehorsam ist und nicht offen rebelliert, das gleiche Herz, die gleichen Motive bewegt, wie der offen rebellierende. Der ältere versucht mit Gehorsam zu Rebellieren. Dies bedeutet, er versucht den Vater, d.h. Gott und wohl auch seine Mitmenschen durch seine Pflichterfüllung zu Schuldnern seines Willens zu machen. Es erstaunt nicht, dass Jesus dieses Gleichnis den damaligen frommen und hochangesehenen Pharisäern erzählt. Denn gerade wir Frommen sind in der Gefahr in diese Falle zu tappen. Es ist daher wohl auch nicht besonders erstaunlich, wenn in den heutigen Predigten und Büchern über dieses Gleichnis von Jesus dieser Aspekt vergessen wird - oder erst gar nicht auffällt!

Keller meint, dass dieses Buch nicht für Suchende bestimmt sei (Seite 7). Es sei eine Einführung in den christlichen Glauben für „die mit dessen Lehren noch nicht vertraut sind oder sich seit einiger Zeit nicht mehr damit beschäftigt haben.“ Für wissbegierige Aussenstehende und gestandene Gläubige sei es jedoch geeignet.


Zu diesem Gleichnis im Lukas 15, 11 - 32 gehören vorgängig auch zwei kleinere Gleichnisse, s. Lukas 15,1-10. In diesen kleineren Gleichnissen wird etwas verloren und wieder gefunden: Ein kostbares Geldstück und ein Schaf. In beiden Fällen wird beinahe verzweifelt gesucht wird, obwohl neben dem verlorenen Schaf doch noch 99 weiter Schafe nicht verloren sind. Man spürt beim Finden des Geldstücks und des Schafes die riesige Freude, weil man sich an ähnliche Situationen im eigenen Leben erinnert, wo man etwas verloren hatte und nach verzweifelter Suche es wieder gefunden hat.

Jesus erklärt mit diesen Gleichnissen den Pharisäern und Schriftgelehrten, also den Bibelkundigen und Theologen seiner Zeit, "So, sage ich euch, ist Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Busse tut." (Lukas 15,10)

Damit ebnet Jesus das Feld, um dann mit dem Gleichnis des verlorenen - oder sagen wir besser - der zwei verlorenen Söhne zu erzählen. In diesem Gleichnis kann der Vater den verlorenen Sohn nicht wie eine Geldmünze oder ein verlorenes Schaf suchen: Er muss warten. Ja noch mehr, er gibt ihm ungerechtfertigte Forderungen: eben: verschwenderisch gibt der Vater. Und der Vater wartet, bis der offen rebellierende Sohn begreift, was wirklich wertvolle Liebe ist.

Nach der Rückkehr des verlorenen Sohnes freut sich der Vater (der ein Gleichnis für Gott ist!) riesig. Lässt ein riesiges Fest feiern. Dabei stellt sich heraus, wie verbittert der ältere und scheinbar brave Sohn ist. Er hasst seinen Bruder. Das kommt nur schon zum Ausdruck, indem er ihn nur noch als "Dein Sohn" indirekt anspricht. Die Welt funktioniert nicht so, wie es der ältere haben wollte. Die Menschen, ja Gott selber hat die Welt nicht nach jenem Mechanismen gemacht, wie es sich der ältere vorgestellt hat.
In unserem Hauskreis wurde die berechtigte Frage gestellt: "Ja was sollen wir denn dann tun? Offen rebellieren ist falsch. Gehorsam ist ebenfalls falsch, weil wir dann zu Heuchlern werden?"

Das ist genau der Punkt: Wir können es nicht aus uns selber. Mit unseren menschlichen Möglichkeiten können wir nur ein jüngerer Bruder oder ein älterer Bruder sein (funktioniert übrigens auch mit jüngerer und älterer Schwester). Hier beginnt der Ansatz des Christentums. Der Platz ist hier zu kurz, um dies vertieft auszuführen. Das Buch selber beschreibt es genial. Ich versuche dennoch mit meinen Worten dies kurz zu umreissen:
Es ist Gnade, die Gott schenkt. Der Zerrbruch, so wie es der jüngere Sohn erlebt hat, führt zur Freiheit und Freude. In dieser demütigen Haltung beschenkt uns Gott - und wenn wir darin bleiben - und dies ist laut der Bibel ein geistlicher Kampf, indem Gott siegen wird - werden wir ebenfalls demütig. Erst dann wird es möglich sein, dass wir vollkommen orthodox und unendlich barmherzig sein können. Wer diesen Zerrbruch nicht erlebt, liest die Bibel und fängt an von den Menschen zu fordern, aus eigener Kraft die Menschen zu lieben und merkt nicht einmal, dass er es selber nicht kann. Dieser Zerrbruch ermöglicht es die riesige Freude des Angenommenseins ohne Leistung, der Wertschätzung, trotz unserer Mängel und Sünden, zu erleben. Dann schmecken wir Gottes Güte und Liebe zu uns und das wird uns in die liebenden Arme Gottes fallen lassen. Johannes Calvin drückt dies so aus: "Und es wird sich niemand Gott aus freien Stücken und willig in Gehorsam unterwerfen, der nicht seine väterliche Liebe geschmeckt hat und dadurch gereizt wurde, ihn zu lieben und ihm zu dienen." (Institutio I,5,3)



Auch Keller geht auf diesen Punkt ein. Zum Beispiel wenn er auf Seite 110 Jonathan Edwards zitiert:
„Es ist ein Unterschied, ob man glaubt, dass Gott heilig und gnädig sei, oder ob einem ein neues Empfinden der Lieblichkeit und Schönheit jener Heiligkeit und Gnade auf dem Herzen liegt. Der Unterschied zwischen dem Glauben, dass Gott gnädig sei, und dem Schmecken, dass Gott gnädig sei, ist ebenso gross wie der zwischen einer verstandesmässigen Ueberzeugung, dass Honig süss sei, und einem tatsächlichen Empfinden seiner Süsse.“ (S. 110-111)


Aber selbst wenn wir die Liebe Gottes geschmeckt haben, besteht immer noch die Gefahr wieder in dieses alte Leistungsdenken zurückzufallen. Darum ruft uns Jesus zu, dass wir in ihm bleiben sollen, dann werden wir Frucht tragen, die Gott selber wirkt (Johannes 15,1 ff). Man beachte hier Jesus: Er sagt nicht, dass wir die Früchte machen sollen: Wir sollen an ihm bleiben, ihm Hören seines Wortes werden wir rein. Gott selber wird dann die guten Früchte wachsen lassen - nicht wir. Und was sind die guten Früchte? Galather 5,22 zählt sie so auf: "Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Selbstbeherrschung." Da ich weiss, dass Menschen, die auf Leistung getrimmt sind, bei diesen Worten automatisch daran denken, dass sie dies Produzieren müssen, möchte ich nochmals sagen: Jesus verlangt nicht, dass wir dies aus eigener Kraft tun sollen. Und wenn er es verlangt, dann soll es uns zum Zerrbruch, also zum Eingeständnis führen, das wir es aus eigener Kraft nicht können. Denn selbst wenn wir unser Bestes geben, bleibt in uns eine zutiefst unheilige Motivation für das Gute. Aber Jesus ist auch dafür gestorben und IN IHM, IN JESUS CHRISTUS, wird mir alles geschenkt. In diesem sicheren Ort darf ich nun leben und auf die Herausforderungen des Lebens reagieren. Dabei werde ich immer im Kampf stehen, zwischen meinem alten Menschen, der in Bösartigkeit und Wut oder Verschlagenheit reagieren möchte oder aus der Haltung in Jesus. Hier könnte man den Aspekt des "Schon jetzt und noch nicht" anführen. Oder der Christ mit seiner "dualistischen" Prägung: der alten ohne Christus und der neuen Mensch in Christus. Denn aus uns, sind wir genauso wie jeder andere. Nichts an uns ist besser. Es gibt kein Fünklein, dass uns auf uns selber stozl machen könnte. Darum gibt es keinen vernünftigen Grund als Christ hochmütig zu werden und sich über andere Menschen zu erheben. (Das versucht ja Jesus den damaligen Theologen mit diesem Gleichnis zu zeigen.) Als Christen sind wir nur besser dran, weil uns Gott erwählt und begnadigt hat. Wenn wir diese Bevorzugung erlebt haben, sollen wir diese Bevorzugung (man könnte es auch Liebe nennen) anderen wiederfahren lassen: Wir sollen für sie beten und ihre Fehler ertragen, weil Gott uns viel mehr vergeben hat. Das ist ein geistlicher Kampf. Bei diesem Kampf dürfen wir wieder nicht in unser altes Leistungsdenkungsmuster verfallen: Wir führen nur aus, was Gott in uns wachsen lässt. Dabei werden wir merken, dass uns Gott immer mehr Selbsterkenntnis schenkt. Und je mehr wir unsere Sündhaftigkeit begreifen, umso mehr werden wir die Liebe und das Angenommensein von Gott erleben. Umgekehrt gilt ebenso: Je mehr ich Gottes Heiligkeit, Gerechtigkeit und Liebe und seine Barmherzigkeit begreife, umso mehr habe ich die Freiheit mich wirklich so zu sehen, wie ich bin: Ein Egoist wie alle anderen Menschen, der hinter den besten Werken eine egoistische Motivation hat. Aber ich bin von Gott geliebt - ohne Grund. Er schätz mich wert - ohne Leistung. Er liebt mich, wie Gott der Vater Jesus liebt, obwohl ich nicht im geringsten Jesus entspreche. Wer das begriffen hat - und dazu braucht es die Hilfe des Heiligen Geistes - der begreift, was Luther mit dem Christen als Sünder und Heiliger zugleich meinte.

Im beschrieben Buch erklärt es Keller anders - und das ist das Originelle. Die Problemstellung, wie er sie umschreibt, versuchte ich mit folgender Uebersicht darzustellen: Dabei könnte man die "Blauen", jene rechte Kolone als die Gesetzlichen umschreibein und die "Gelben", die linke Kolone als die Gesetzlosen. Ohne Jesus haben wir die Wahl zwischen diesen Zweien. Einige wechseln die Position von links nach rechts, je nach Thematik:


Warum erzählt Jesus dieses Gleichnis? Er will uns Fromme erreichen, dass wir nicht nur Busse tun, für unsere offensichtlichen Sünden, sondern auch Busse tun für unsere Motive hinter den guten Werken. DAS ist der Unterschied zwischen einem gesetzlichen Pharisäer und einem aus Gnade erretteten Sünder. Vor ca. 2000 Jahren erzählte dies Jesus einer Gruppe von Menschen, die es damals nicht verstehen konnten. Viele von ihnen riefen später: „Kreuziget Jesus!“ Jesus nervte sie. Er hatte sie in ihrem religiösen Selbstverständnis gekränkt. Denn ihre selbstverliebten Träume waren ihnen wichtiger als die Wahrheit. Jesus wusste das und liebte sie trotzdem. Als dann Petrus an Pfingsten seine Predigt hielt, ging die liebevolle Investition von Jesus auf und viele dieser Menschen, Pharisäer, Schriftgelehrte und andere Selbstgerechte ging ein Stich durchs Herz, weil sie jetzt Jesus verstehen konnten. Jesus liebte sie durch dieses Gleichnis, trotz ihrer Verachtung. Er liebt sie durch das ungerechte Kreuz und seine Auferstehung nach Hause. Das ist die Intention dieses Gleichnisse.

Die hat auch Einfluss auf mein Reden mit Gott. Unten eine Zusammenfassung seiner Aussage über das Gebetsleben, je nach Beziehung mit Gott:


Hier noch einige Zitate aus dem Buch

In Klammern die Seitenzahl der deutschen Ausgabe:

„Diese Dynamik verstärkt sich ausserordentlich, wenn der grösste Stolz älterer Brüder darin liegt, dass sie die richtige Religion haben. Wenn eine Gruppe glaubt, Gott bevorzuge sie wegen ihrer besonders wahren Lehre, ihrer Anbetungsformen und ihres ethischen Verhaltens, dann kann ihre Haltung gegenüber denen, die all dies nicht haben, geradezu feindselig sein. Ihre Selbstgerechtigkeit versteckt sich hinter dem Vorwand, sie träten nur den Feinden Gotts entgegen. Wenn man die Welt durch solche Linsen betrachtet, kommt man leicht dazu, hass und Unterdrückung zu rechtfertigen, alles im Namen der Wahrheit. Richard Lovelace schreib:
‚(Leute,) die nicht mehr sicher sind, dass Gott sie in Jesus leibt und annimmt, ungeachtet ihrer gegenwärtigen geistlichen Erfolge, sind im Unterbewusstsein zutiefst verunsicherte Menschen. (…) Ihre Unsicherheit zeigt sich als Stolz, als eine heftige, abwehrende Behauptung ihrer eigenen Gerechtigkeit und als abwehrende Kritik an anderen. In ihnen entsteht ein natürlicher Hass gegen andere kulturelle Stile und andere Rassen, der dazu dient, ihre eigene Sicherheit aufzumöbeln und ihrem unterdrückten Zorn ein Ventil zu verschaffen.‘
Die Selbstgerechtigkeit älterer Brüder erzeugt nicht nur Rassismus und Klassendenken, sondern führt auch auf der persönlichen Ebene zu einer nachtragenden, verurteilenden Haltung“. (S. 59-60)
„Er liebt nicht nur die zügellosen, freigeistigen Leute, sondern auch die verknöcherten Frommen. Wir werden Gott nichtfinden, wenn er nicht zuerst uns sucht, aber wir sollte nicht vergessen, dass er das auf ganz unterschiedliche Weise tun kann. Manchmal springt Gott uns ganz dramatisch an, wie er es bei dem jüngeren Sohn tut, und wir bekommen seine Liebe dann ganz deutlich zu spüren. Manchmal rechtet er leise und geduldig mit uns, obwohl wir uns weiterhin abwenden, wie im Fall des älteren Sohnes.
Woran merken Sie, ob er jetzt gerade an Ihnen wirkt?... (Seite 78 und 79)
 „… das Christentum (ist) keineswegs Opium für das Volk. Es ist eher wie ein Riechsalz.“ (S. 116)

„Der wesentliche Unterschied zwischen einem Pharisäer und einem, der an Jesus glaubt, ist die innere Herzensmotivation. Pharisäer tun Gutes aus einem angstgesteuerten Bedürfnis, Gott zu beherrschen. Sie vertrauen ihm nicht, und sie lieben ihn im Grunde nicht. Für sie ist Gott ein fordernder Chef, kein liebender Vater. Christen haben hingegen etwas gesehen, das ihre Herzen Gott zugewendet hat, so dass sie nun endlich den Vaterlieben und in ihm ruhen können. Der grossartige Film „Saigon Stories“ (ach. Three Seasons“) … (S. 89)
„Religion funktioniert nach dem Prinzip: „Ich gehorche – also bin ich von Gott angenommen.“ Das grundlegende Funktionsprinzip des Evangeliums dagegen lautet ganz anders: „Ich bin durch das Werk Jesu Christi von Gott angenommen – also gehorche ich.“ (Seite 117)

„Solche Dinge kann man nicht durchreine Willenskraft ändern, indem man biblische Prinzipien auswendig lernt und versucht, sie in die Tat umzusetzen. Auf die Dauer können wir uns nur verändern, indem wir das Evangelium immer tiefer in unser Verständnis du in unsere Herzen aufnehmen. Wir müssen uns sozusagen vom Evangelium ernähren, es verdauen und zu einem Teil von uns machen .So wachsen wir. Wie geht das?... „(S. 118)
„Schauen Sie sich an, wie der Apostel Paulus der Gemeinde in Korinth in seinem Brief halt, in der Gnadengabe der  Grosszügigkeit zu wachsen. Er übt keinen direkten Druck auf den Willen aus, indem er sagt: „Ich bin ein Apostel, und das ist eure Pflicht mir gegenüber“, und auch keinen direkten Druck auf die Emotionen, indem er ihnen Geschichten darüber erzählt, wie schwer die Armen leiden und wie viel reicher die Korinther doch seien als diese Notleidenden. Stattdessen sagt er: „Denkt daran, was unser Herr Jesus Christus in seiner Liebe für euch getan hat. Er war reich und wurde doch arm, um euch durch seine Armut reich zu machen“ (2. Korinther 8,9). Paulus verwiest sie zurück aufs Evangelium. Er sagt: „Denkt über seine kostbare Gnade nach – bis ihr so weit seit, dass ihr genauso geben wollt wie er.“ (S. 119)

„.. das es möglich ist, theologisch gründlich und völlig orthodox und dennoch unermüdlich barmherzig zu sein – eine seltene und kostbare Kombination. (S. 137: Hat Keller durch Dr. Ed Cowney und seinem Predigen vom verlorenen Sohn gelernt.)

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