„Denn der
Verstand ist verdunkelt, aus dem freien Willen aber ist ein dienstbarer Wille
geworden. Denn er dient der Sünde nicht unfreiwillig, sondern freiwillig. Darum
redet man auch von Freiwilligkeit und nicht von Unfreiwilligkeit. Was also das
Böse oder die Sünde angeht, so wird der Mensch weder von Gott noch vom Teufel
dazu gezwungen, sondern er begeht das Böse aus eigenem Antrieb und hat
allerdings in dieser Hinsicht allerfreisten
Willen! Wenn wir allerdings nicht selten beobachten, dass die ärgsten Taten
und Pläne der Menschen von Gott verhindert werden, so dass sie ihren Zweck
nicht erreichen, so nimmt er doch dem Menschen die Freiheit im Bösen nicht,
sondern Gott kommt mit seiner Macht dem zuvor, was der Mensch mit seinem
‚freien Willen‘ anders geplant hat, so wie sich die Brüder Josephs vornehmen,
den Josef zu töten, es aber nicht können ,weil durch Gottes Ratschluss etwas
anderes beschlossen war. Was aber das Gute und die Tugenden betrifft, so
beurteilt der Verstand des Menschen die göttlichen Dinge aus sich selbst nicht
recht. Die Evangelien und die apostolischen Schriften fordern von einem
jeglichen unter uns die Wiedergeburt,
wenn wir selig werden wollen. Daher trägt die erste Geburt von Adam her nichts
zu unserer Seligkeit bei. Paulus sagt: ‚Ein natürlicher Mensch aber nimmt die
Dinge, die des Geistes Gottes sind, nicht an‘ usw. (1. Kor. 2,14). Ebenso sagt
er, dass wir nicht geschickt seien, aus uns selbst etwas Gutes zu denken (2.
Kor. 3,5). Gewiss ist der Geist oder Verstand der Führer des Willens; aber wenn
der Führer blind ist, kann man sich ja denken, wohin auch der Wille gelangt.
Darum gibt es für den noch nicht wiedergeborenen Menschen keinen freien Willen zum Guten und auch keine Kraft, das Gute zu
vollbringen. Der Herr sagt im Evangelium: ‚Wahrlich, wahrlich, ich sage
euch: Jeder, der Sünde tut, ist der Sünde Knecht‘ (Joh. 8,34). Und der Apostel
Paulus spricht: ‚Das Trachten des Fleisches ist Feindschaft wider Gott; denn es
unterwirft sich dem Gesetz Gottes nicht; es vermag das ja auch nicht?‘ (Röm.
8,7). In den irdischen Dingen ist der Mensch wohl trotz seinem Fall nicht
ohne Verstand. Denn Gott hat ihm aus Barmherzigkeit natürliche geistige Fähigkeiten gelassen, die allerdings weit
geringer sind, als was er vor dem Falle besass. Gott befiehlt auch, dass man
diese übe und pflege und gibt dazu die Gaben und das Gedeihen. Und es ist
offenbar, dass wir in allen Künsten nichts erreichen ohne den Segen Gottes. Die
Heilige Schrift führt bestimmt alle Künste auf Gott zurück. Übrigens schreiben
sogar die Heiden den Ursprung der Künste der Erfindung der Götter zu.
Endlich ist
zu untersuchen, ob und inwiefern die Wiedergeborenen einen freien Willen haben.
Bei der Wiedergeburt wird der Verstand erleuchtet, durch den Heiligen Geist, so
dass er die Geheimnisse und den Willen Gottes erkennt. Und der Wille selbst
wird durch den Geist nicht bloss verändert, sondern er wird auch mit den
Fähigkeiten ausgerüstet, dass er aus innerem Antrieb das Gute will und es ausführen
kann (Röm 8,1 ff.). Würden wir das nicht zugeben, so müssten wir die
christliche Freiheit leugnen und die Knechtschaft des Gesetzes einführen. Aber
Gott spricht auch durch den Propheten: ‚Ich werde mein Gesetz in ihr Inneres
legen und es ihnen ins Herz schreiben‘ (Jer. 31,33; Ez. 36,26f.). Und der Herr
sagt im Evangelium: ‚Wenn nun der Sohn euch frei macht, werdet ihr wirklich
frei sein? (Joh. 8,36). Auch Paulus schreibt an die Philipper: ‚Denn euch wurde
verliehen, nicht nur an Christus zu glauben, sondern auch für ihn zu leiden?
(Phil. 1,29). Und wiederum: Ich vertraue … darauf, dass der, welcher in euch
ein so gutes Werk angefangen hat, es vollenden wird bis zum Tage Christi Jesu‘
(Phil. 1,6). Ferner: ‚Denn Gott ist es, der in euch sowohl das Wollen als das
Vollbringen wirkt‘ (Phil. 2,13).
Dabei lernen
wir, sei zweierlei zu beachten. Erstens: Die Wiedergeborenen handeln bei der
Entscheidung für das Gute und beim Tun des Guten nicht nur als Geschobene,
sondern selbsttätig. Sie werden nämlich von Gott getrieben, dass sie selber
tun, was sie tun.
Augustin
führt daher mit Recht jene Wahrheit an, dass Gott unser Helfer sei. Man kann
aber nur einem helfen, der selber etwas tut. Die Manichäer berauben den
Menschen jeder Selbsttätigkeit und machten ihn sozusagen zu Stock und Stein.
Zweitens: In den Wiedergeborenen bleibt Schwachheit zurück. Denn da die Sünde
in uns wohnt und das Fleisch in den Wiedergeborenen bis ans Ende unseres Lebens
dem Geiste widerstreitet, vermögen sie nicht völlig zu erreichen, was sie sich
vorgenommen haben. Das wird vom Apostel Paulus in Röm. 7 und Gal. 5 bestätigt.
Deshalb ist dieser unser freier Wille wegen der Überreste des uns bis ans Ende
anhaftenden alten Adams und der angeborenen menschlichen Verderbnis immer
schwach. Da nun die Triebe des Fleisches und die Überreste des alten Menschen
immerhin nicht so wirksam sind, dass sie das Wirken des Geistes ganz
auslöschen, so können deshalb die Gläubigen frei genannt werden, jedoch so,
dass sie ihre Schwachheit wohl kennen und sich keineswegs des freien Willens
rühmen. Die Gläubigen sollen nämlich stets das Apostelwort beherzigen, das der
selige Augustin so oft anführt: ‚Was hast du aber, das du nicht empfangen hast?
Hast du es aber doch empfangen, was rühmst du dich, als ob du es nicht empfangen
hättest?‘ (1. Kor. 4,7). Dazu kommt, dass nicht immer das geschieht, was wir
uns vorgenommen haben. Der Ausgang der Dinge liegt eben in Gottes Hand. Daher
bittet Paulus den Herrn, dass er Gelingen zu seiner Reise gebe (Röm. 1,10).
Daraus ist auch ersichtlich, wie schwach der freie Wille sei.
Übrigens leugnet
niemand, dass in äusseren Dingen Wiedergeborene und Nichtwiedergeborene freien
Willen haben. Diese
Anlage hat der Mensch mit dem anderen Lebewesen gemein – ist er doch nicht
niedriger als sie! – , so dass er das eine will, das andere nicht will. So kann
er reden oder schweigen, von zu Hause weggehen oder daheim bleiben usw. doch
ist auch hier Gottes Macht zu beachten, die bewirkt, dass Bileam nicht dahin
gelangen konnte, wohin er wollte (4. Mose 24), und Zacharias beim Verlassen des
Tempels nicht zu reden vermochte, wie er wollte (Luk 1). In dieser Hinsicht
lehnen wir die Lehre der Manichäer ab, die leugnen, dass der Ursprung des Bösen
aus dem freien Willen des gut geschaffenen Menschen gekommen sei. Wir verwerfen
auch die Meinung der Pelagianer, die sagen, der gefallene Mensch habe genügend
freien Willen, das gebotene Gute zu tun. Beide werden von der Heiligen Schrift
widerlegt:
Denn den
Manichäern wird gesagt: ‚Gott hat den Menschen gut geschaffen‘ (1. Mose 1,27;
Pred. 7, 29, 30) und den Pelagianern: ‚Wenn der Sohn euch frei macht, werdet
ihr wirklich frei sein.‘ (Joh. 8,36).“ (S. 39 -43, (1) Aus „Das Zweite
Helvetische Bekenntnis“ von Henrich Bullinger, Ausgabe 1967
)
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